Express Online: Thema der Woche | 1. Juli 2010

Wilde Orchideen sollen sterben

Farnschlucht und Alpinum
Konzipiert wurde der 1977 eröffnete Garten von Günther Grzimek, einem Neffen des berühmten Zoologen Bernhard Grzimek. Mit 20 Hektar ist er einer der größten Deutschlands. Er beherbergt 13 500 verschiedene Pflanzenarten.
Attraktionen sind die acht Schaugewächshäuser mit Kakteen sowie Pflanzen aus Australien, den Tropen, dem Amazonas und den Kanaren. Es gibt Teiche, kleine Wasserfälle, einen preisgekrönten Indianerpfad, einen Blindenlehrpfad, eine in Deutschland einzigartige Farnschlucht, einen Frühlingswald und das größte Alpinum nördlich der Alpen. Es locken Murmeltiere, Pfeilgiftfrösche, Geckos, fleischfressende Pflanzen und ein Schmetterlingshaus.
Öffnungszeiten: täglich von 9 bis 18 Uhr, Eintritt ein bis zwei Euro.
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Botanischer Garten Marburgs kämpft ums Überleben

Die Schließung des Botanischen Gartens auf den Marburger Lahnbergen ist gerade noch abgewendet worden. Die wertvollen Orchideen des 20 Hektar großen Uni-Gartens werden aber wohl das erste Opfer des neuen Hochschulpakts. 330 der 1600 Arten werden sterben, weil sich niemand mehr darum kümmern kann, schätzt Leiter Andreas Titze. Dabei hat Marburg bei den Orchideen einen großen Namen: "Bei den Wildarten sind wir die Nummer eins in Deutschland", sagt Titze. "Das ist biologisches Gold", sagt die Vorsitzende des Freundeskreises des Botanischen Gartens, Elisabeth Bohl.

Die wertvollsten Orchideen sind unauffällig, aber äußerst anspruchsvoll: Graspolster mit gelben Tupfen, Gewächse mit dicken Blättern und winzigen orangefarbenen Blüten und an Holzrinde festgekrallte Pflanzen mit meterlang herabhängenden Wurzeln erfordern eine intensive Pflege. Nur die drei Orchideengärtner wissen, wie man die empfindlichen Wildarten behandeln muss, die vor allem aus Ostasien und Lateinamerika stammen. Doch die Universität hat die Stelle einer Gärtnerin nicht verlängert. Zum 31. Juli wird sie arbeitslos.

Und weil der Botanische Garten schon innerhalb der vergangenen Jahre fast die Hälfte seiner Mitarbeiter verloren hat – 30 von einst 65 Beschäftigten –, können die anderen Gärtner die Arbeit nicht mehr übernehmen. Selbst nach dem Gutachten des Landes ist Marburg im Vergleich zu anderen Botanischen Gärten unterbesetzt. Zudem sind die wilden Orchideen eine Wissenschaft für sich, nur Spezialisten können sie ausreichend pflegen.

Aber der Botanische Garten verliert noch weitere Mitarbeiter: Im Juli muss die Gärtnerin gehen, die sich um Hessens größten Rhododendron-Bestand kümmert, der erst kürzlich in die Genbank Rhododendron aufgenommen wurde. Auszubildende sollen in Zukunft nicht mehr eingestellt werden. Und jede auslaufende Stelle soll nicht wieder besetzt werden.

Dabei bestätigt auch Uni-Präsidentin Katharina Krause, dass der Garten hervorragende Arbeit macht. Doch die Philipps-Universität muss nach dem neuen Hochschulpakt jedes Jahr 6,2 Millionen Euro sparen: "Wir haben schon nicht genügend Geld für Forschung und Lehre", sagt die Präsidentin. Der Artenschutz sei jedoch eine Landes- oder Bundesaufgabe. Deswegen will die Hochschule in Zukunft weniger zahlen. Bislang kostet sie der Garten jedes Jahr 1,2 Millionen Euro, während das Land 620.000 Euro beisteuert. "Wir brauchen höhere Zuschüsse", sagt Krause.

Für diese Saison ist erst einmal die Stadt Marburg eingesprungen, um zumindest die Schließung des Gartens abzuwenden: 20.000 Euro will sie zahlen, damit das Kassenhäuschen weiter besetzt werden kann. Dank der vielen Anstrengungen des Botanischen Gartens sind die Besucherzahlen in den vergangenen Jahren nämlich bis auf rund eine Million pro Jahr gestiegen – trotz sinkender Mitarbeiterzahlen. Neben den einzigartigen Wildpflanzen locken Ausstellungen, Konzerte und Pflanzenflohmärkte. Besonders erfolgreich ist die Grüne Schule, die im vergangenen Jahr 130 Schulklassen zu Projekten über Kakao, Kaffee, Wüste, Regenwald, Schmetterlingen oder Blütenökologie in den Garten holte.

Der Freundeskreis des Botanischen Garten hat bereits Landespolitiker alarmiert und mehr als 1000 Unterschriften für den Erhalt des Gartens gesammelt. Titze hofft vor allem auf den Besuch des Hessischen Finanzministers Karlheinz Weimar, der den von Teichen, Bächen und kleinen Wasserfällen durchzogenen Garten im August besuchen will.

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 1. Juli 2010

Handeln Menschen rational?

New Frameworks of Rationality
Das von Psychologieprofessor Markus Knauff gemeinsam mit zwei Psychologen aus Basel und Göttingen sowie zwei Philosophen aus Konstanz und Düsseldorf beantragte Schwerpunktprogramm soll 2011 seine Arbeit aufnehmen und das in Deutschland und darüber hinaus vorhandene wissenschaftliche Know-how im Bereich der Erforschung menschlicher Rationalität vernetzen. Auf diese Weise werden möglichst viele Experten zusammengebracht, die an unterschiedlichen Forschungsstandorten tätig sind. Für das Programm stellt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) insgesamt rund 12 Millionen Euro zur Verfügung. Die Schwerpunktprogramme der DFG arbeiten in der Regel sechs Jahre. Infos: www.uni-giessen.de/cms/cognition/
Das Bild des Menschen als "rationales Wesen" ist gründlich ins Wanken geraten. Rund 12 Millionen Euro für die Erforschung menschlichen Denkens

Ist der Mensch ein "rationales Wesen"? Was ist rational? Und was (angeblich) irrational? Wie treffen Menschen Entscheidungen? Wie können Denkfehler vermieden werden? Wo liegen die Grenzen unseres Denkvermögens? Wie können wir unsere Fähigkeit verbessern, Probleme effektiv zu lösen und vernünftige Entscheidungen zu treffen?

Diese Fragen sind Gegenstand des neu eingerichteten DFG-Schwerpunktprogramms "New Frameworks of Rationality"das von Psychologieprofessor Markus Knauff an Gießener Universität künftig erforscht wird.

Hintergrund: Das Bild des Menschen als "rationales Wesen" ist in den letzten Jahren gründlich ins Wanken geraten. Es ist zwar nicht so, dass Menschen regelmäßig scheitern, wenn sie mit komplexen Problemen konfrontiert sind. Im Gegenteil: Die Fähigkeiten von Menschen, die kompliziertesten Probleme zu lösen und über die komplexesten Sachverhalte nachzudenken, ist überwältigend – die Menschheit wäre sonst nicht da, wo sie heute ist. Allerdings ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, dass Menschen vielfach von dem abweichen, was man als "rational" bezeichnen würde. Sie halten sich nur selten an das, was die Normen der Logik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der mathematischen Entscheidungstheorie vorgeben. Beispielsweise nehmen die meisten Menschen für einen potenziell hohen Gewinn viel mehr Verluste in Kauf, als es gerechtfertigt wäre, würden sie sich an die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie halten (man denken an die aktuelle Finanzmarktkrise). Oder sie ziehen Schlüsse aus gegebenen Informationen, die mit den Regeln der formalen Logik wenig zu tun haben. Nehmen Personen zum Beispiel an, dass die Regel "Wenn es regnet, ist die Straße nass" stimmt, dann schließen sie meistens daraus, dass die Straße nass ist, dass es geregnet haben muss. Das ist aber – logisch gesehen – falsch: vielleicht fuhr nur gerade ein Wagen der Straßenreinigung vorbei.

In der Psychologie sind – grob betrachtet – zwei Grundauffassungen vertreten, wie solche Abweichungen von den normativen Vorgaben der Logik bewertet werden sollen. Eine wissenschaftliche Strömung interessiert sich dafür, wie die Abweichungen von den normativen Modellen erklärt werden können. Hierbei werden die Limitationen des menschlichen kognitiven Systems für die Abweichungen verantwortlich gemacht. Die andere psychologische Strömung kritisiert daran, dass die Abweichungen überhaupt als "Fehler" betrachtet werden. Die Abweichungen haben aus dieser Sichtweise einen hohen Wert, weil diese an die Informationsstruktur einer Umgebung angepasst sind. Sie haben sich wahrscheinlich in der Evolution entwickelt, weil sie das Überleben besser sichern konnten als beispielsweise die Vorgaben der formalen Logik.

Ein Themengebiet der Forschungen wird sein, wie die Kompetenz von Menschen zu erklären ist, Schlüsse zu ziehen, die mit den Normen der Logik und Wahrscheinlichkeit übereinstimmen, und warum Menschen in anderen Fällen oft von diesen Regeln abweichen. Im SPP wird dabei eine große Rolle spielen, dass möglicherweise zwischen verschiedenen Typen von "Rationalität" unterschieden werden kann. Das Verhalten von Personen kann "rational" sein, wenn es am ehesten zur Erreichung eines Zieles beiträgt. Es kann aber auch "rational" sein, weil es mit den Normen der Logik und Wahrscheinlichkeit übereinstimmt. Zu erklären, in welcher Beziehung diese verschiedenen Konzepte von Rationalität zueinander stehen, ist die große Herausforderung, die sich das Schwerpunktprogramm zur Aufgabe gestellt hat.

pe/kro

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