Vor 700 Jahren muss Marburg wie eine große Baustelle ausgesehen haben: In der berühmten Elisabethkirche wurden zwar schon täglich Messen gelesen. Es fehlten jedoch noch die 80 Meter hohen Türme. Das Landgrafenschloss wurde zur Residenz ausgebaut. Die Architekten, Künstler und Handwerker aus Nordfrankreich bauten mit der Elisabethkirche die erste gotische Kirche Deutschlands, den Fürstensaal und die Schlosskapelle. Indes wohnten nur etwa 1500 Menschen in Marburg.
Am 17. Oktober feiert die Kommune 700 Jahre Stadtrecht. Damit gehörte das im 12. Jahrhundert besiedelte Marburg keineswegs zu den frühen Städten mit eigenen Stadtrechten. Bischof Ludwig von Münster, ein gebürtiger Landgraf von Hessen und Urenkel der Heiligen Elisabeth, war damals Stadtherr. Und er hat die Pergamenturkunde "für die lieben und getreuen Bürger von Marburg" mit seinem Siegel beglaubigt, die heute im Stadtarchiv liegt. Ausnahmsweise wird das Original am 17. Oktober im Rathaus zu sehen sein.
Für das Stadtoberhaupt entscheidend war die darin enthaltene Festlegung der Abgaben, welche die Bürger Marburgs zu leisten hatten: 300 Mark Kölnische Pfennige, die jedes Jahr zu Weihnachten fällig waren. Zudem wurde festgelegt, wer die Bürgerschaft vertreten konnte: Mit den zwölf Ratsmännern wurden erstmals Personen aus der Gemeinde an der Stadtregierung beteiligt. "Eine Volksvertretung im modernen Sinne war das aber nicht", betont Stadtarchivar Dr. Ulrich Hussong. In der Regel handelte es sich um reiche Marburger Bürger, die von der traditionellen Führungsschicht ausgewählt wurden.
Wie die Marburger damals gelebt haben, kann die Leiterin des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, Dr. Ursula Braasch-Schwersmann, schildern. "Marburg war damals eine wohlhabende Stadt", sagt die Historikerin. Die etwa 1500 Bewohner lebten in der Oberstadt, auf dem Schloss und in Weidenhausen. Wer Kleider, Schuhe oder Töpfe verkaufen wollte, machte lediglich die Schirn seines Hauses auf ein kleines Schutzdach, unter dem Waren ausgestellt wurden.
In den gepflasterten Gassen kann es aber nicht gut gerochen haben. Die Kloake floss über Abrinnen durch die Oberstadt bis in die Lahn. Noch schlimmer dürften die Dünste in der damaligen Vorstadt Weidenhausen gewesen sein, wo die Lohgerber rohes Fleisch, Tierhäute und die Rinde von Erlen und Eichen verarbeiteten. "Das hat schon gestunken", weiß Braasch-Schwersmann. Die Lohgerber bearbeiteten die Häute von Schweinen, Kälbern und Kühen, um Leder für Schuhe, Kleider und Sättel sowie Pergament zum Schreiben zu gewinnen. Auch die in der Urkunde erwähnten Wollweber saßen größtenteils in Weidenhausen. Nach dem Dokument durften nur noch die Tuchhändler das wertvolle Tuch in Stücke schneiden und verkaufen.
Marburg war damals eine Handelsstadt. Sie lag an der so genannten Waynstraße, die von Frankfurt über Marburg, Wetter und Frankenberg bis nach Korbach führte. "Wayn stand allerdings nicht für Wein, sondern für Wagen", erklärt Braasch-Schwersmann. Die Händler zogen mit Pferdewagen und Ochsenkarren über die an Taunus und Lahn entlang führende Handelsstraße. Eine echte Stadtschule gab es nach Einschätzung der Historikerin vermutlich noch nicht, wohl aber Unterricht für reiche Bürger und Kaufleute.
Wichtigste Entwicklung dieser Zeit war der von Landgraf Heinrich, dem Vater von Bischof Ludwig von Münster, betriebene Ausbau Marburgs zur Residenzstadt. Er verwandelte die Burg in die prachtvolle Hauptresidenz Hessens. So ließ er den Fürstensaal bauen heute einer der größten und schönsten gotischen Säle Deutschlands. Ein Jahrhundert später gab es sogar ein echtes Wappentier auf dem Schlossberg: Damals wurde ein Löwe im Burggraben gehalten. Das Rathaus wurde erst später gebaut. Die Ratsherren tagten vermutlich im so genannten Kaufhaus, einem Haus, in dem sich die Kaufleute trafen.
Von den damaligen Fachwerkhäusern der Oberstadt steht heute allerdings keines mehr. Sie sind fast alle beim großen Stadtbrand 1260 in Flammen aufgegangen anschließend wurde die Altstadt wieder neu errichtet. Bis heute sichtbar sind jedoch das Landgrafenschloss, die inzwischen Lutherische Pfarrkirche, die Elisabethkirche und Teile der Anlage des Deutschen Ordens.