Der Sexualstraftäter von nebenan
Bizarrer Protest und Furcht vor Wiederholung: Im Marburger Stadtteil Stadtwald machen sich die Bürger Sorgen um ihre Kinder, seit ein ehemaliger Sicherheitsverwahrter unter ihnen lebt.
Das war eine Notwehrreaktion", sagt der stellvertretende Ortsvorsteher Matthias Simon. "Hetze" nennt es Anwohner Stefan Diefenbach-Trommer. Metergroß haben Bürger aus dem Marburger Stadtwald Jahrzehnte alte Zeitungsartikel über einen Sexualstraftäter aus ihrer Nachbarschaft kopiert sowie am Spielplatz und an der Bushaltestelle aufgehängt. Die Plakate hingen nur einen Tag, doch seitdem ist die Siedlung gespalten.
Seit acht Monaten lebt ein aus der Sicherungsverwahrung entlassener Straftäter im Stadtwald. Der 57-Jährige kam nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs frei, obwohl er noch als gefährlich eingestuft wird. Nach den Recherchen von Anwohnern soll er vor rund 40 Jahren einen Sechsjährigen erstochen sowie vor 17 Jahren eine Siebenjährige missbraucht haben. Ersteres wussten die Anwohner bis zu ihrer Suche in Zeitungsarchiven nicht: "Wir waren schockiert", sagt Thorsten Steinfeldt von der Stadtwaldgemeinschaft. Die erste Familie mit kleinen Kindern wollte wegziehen. Die Plakate seien aufgehängt worden, "damit endlich etwas passiert", erklärt Steinfeldt.
Als der 57-Jährige im Juli vergangenen Jahres aus dem Gefängnis in Schwalmstadt in den kinderreichsten Stadtteil Marburgs zog, war das nämlich eigentlich nur eine Übergangslösung. Er kam damals mit einem zweiten Entlassenen, der wegen versuchten Raubmords hinter Gittern saß. Dieser ist inzwischen innerhalb Marburgs umgezogen und hat einen Arbeitsplatz gefunden. Der dritte Entlassene - ein Sexualstraftäter, der in einem anderen Stadtteil Marburgs wohnte, - ist im Herbst gestorben. Er war laut Stadt auf dem Weg der Integration.
Von Integration kann bei dem 57-Jährigen im Stadtwald keine Rede sein. Mehrmals am Tag fährt die Polizei mit einem Streifenwagen vorbei. Auch verdeckte Bewachung gibt es. Manche Nachbarn, die direkt gegenüber wohnen, lassen ihre Rollos den ganzen Tag herunter. Fast alle Kinder des Viertels wissen, wie der Mann aussieht. "Viele rennen weg", sagt ein Anwohner. Dass der Mann fast täglich zu Fuß in die Innenstadt läuft und dabei auch an Schulen vorbeikommt, beunruhigt sie.
Wie ängstlich Nachbarn reagieren, ist jedoch unterschiedlich: Einzelne Familien holen ihre Kinder seitdem täglich von der Schule ab und lassen sie nur noch unter Aufsicht von Erwachsenen draußen spielen. Die meisten sorgen dafür, dass der Nachwuchs nicht mehr allein unterwegs ist. Wieder andere haben wenig Verständnis für das öffentliche Anprangern: "Das ist über das Ziel hinausgeschossen", sagt Anwohner Stefan Diefenbach-Trommer. Schon deshalb, weil auch Kinder die Plakate gelesen haben. Der dreifache Vater urteilt: "Missbrauch von Kindern passiert fast immer im privaten Umfeld. Insofern ist das Risiko nicht gestiegen."
Konkrete Vorfälle hat es bislang noch nicht gegeben. "Er hält sich an die Auflagen des Gerichts", sagt Gerichtspräsident Christoph Ullrich. Dazu zählt neben regelmäßigem Melden bei den Bewährungshelfern, dass er keinen Kontakt zu Kindern aufnehmen darf. Der ehemalige Sicherungsverwahrte ist nämlich "kein Überfalltäter, der Kinder ins Gebüsch zieht, sondern ein Beziehungstäter", erklärt Ullrich. Deshalb würden eigentlich auch die üblichen Warnungen an Kinder reichen: "Steig nicht in fremde Autos, geh nicht mit fremden Männern mit."
Andererseits klingt die Schilderung der Landesregierung nicht vertrauenerweckend: Es sei mit "hoher Wahrscheinlichkeit" ein erneuter sexueller Missbrauch von Kindern zu erwarten, schrieb das Ministerium auf eine Anfrage der grünen Landtagsabgeordneten Angela Dorn. Bei ihm handele es sich aber nicht um den "Typ des intelligenten und gerissenen Psychopathen", sondern um einen Menschen mit einer "dissozialen Persönlichkeitsstörung auf dem Boden einer intellektuellen Mangelausstattung".
Dass der Mann von einem Tag auf den anderen in die fast dörfliche Struktur des Stadtwald kam, findet Thorsten Steinfeld von der Stadtteilinitiative falsch: "Der Mann gehört in eine geeignete Einrichtung - zum Beispiel betreutes Wohnen." Doch das ist schwerer als gedacht. Eigentlich sollte er schon bei seiner Entlassung im Rhein-Main-Gebiet beziehungsweise in der Nähe seines letzten Wohnortes untergebracht werden. Das scheiterte teilweise an der Finanzierung, teilweise am Veto des Betroffenen. Schließlich ist der 57-Jährige formal ein freier Mann.
Eigentlich wollte die Stadtwaldgemeinschaft den Fall zum Wahlkampfthema machen. Die Anwohner fragten, was die Kandidaten tun wollen, damit der 57-Jährige aus der Siedlung fortzieht. Doch die Politiker ließen sich nicht darauf ein. Sie baten gemeinsam darum, das Thema aus dem Kommunalwahlkampf herauszulassen.
Die Plakat-Aktion hält Oberbürgermeister Egon Vaupel für den falschen Weg. Trotzdem betont er, dass die Bürger lange durchaus besonnen reagiert hätten. Verhältnisse wie in Hamburg, wo ein Sexualstraftäter wegen massiver Proteste dreimal umziehen musste, habe es in Marburg nicht gegeben.