Express Online: Thema der Woche | 9. Dezember 2004

"Viel erreicht"

Wetzlars Demokratiewerkstatt wird 10 Jahre alt. Seit 1994 können sich Jugendliche im städtischen "Jugendforum" lokalpolitisch engagieren.

Dass Wetzlar seit rund zwei Monaten ein neue Freizeithalle mit großem Platzangebot für Skateboardfahrer hat, findet Philipp Tzökas schlicht "cool". Nicht nur, weil Fans des Trendsports endlich bei schlechten Wetter skaten können, sondern "weil wir das in der Gruppe erreicht haben". Schließlich stammt die Idee zu einer Skater-Halle vom Wetzlarer Jugendforum, in dem der 14 Jahre alte Schüler seit knapp zwei Jahren mitarbeitet.

Sicher, durch "die kleinen Problemchen" wie Geldmangel und bürokratische Hürden habe es über fünf Jahre bis zur Umsetzung gedauert, berichtet Anne Polzer. Die 18-Jährige ist bereits seit rund sieben Jahren in dem Forum aktiv und zählt weitere Erfolge des jugendlichen Engagements in der Stadtpolitik auf: die 2002 eröffnete Downhill-Strecke für Mountainbiker, die Initiative für eine radfahrer-freundlichere Stadt oder auch die Wiedereinrichtung einer eingestellten Stadtbuslinie. "Wir haben so viel erreicht, dass ich manchmal kaum weiß, was wir noch in Angriff nehmen sollen", bilanziert "Jufo"-Veteranin Polzer.

Als hessenweit eine der ersten Einrichtungen dieser Art ist das Jugendforum vor zehn Jahren auf Initiative der Grünen-Fraktion im Wetzlarer Stadtparlament gegründet worden. Das Ziel: Jugendlichen mit "politischen Primärerlebnissen" erfolgreiche Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Engagement aufzuzeigen. Erfahrungen des ersten hessischen Jugendparlamentes im Vogelsbergkreis wurden damals in die Entwicklung eines möglichst attraktiven Angebots einbezogen. Statt für ein gewähltes Parlament wie im Vogelsberg plädierte das Wetzlarer Jugendbildungswerk aber für einen offeneren Ansatz: "Allen Jugendlichen, die mitwirken wollten, sollte die Möglichkeit dazu gegeben werden – ohne ein Wahlverfahren, bei dem es auch Verlierer gibt", berichtet Jugendbildungswerk-Leiter Hans Helmut Hofmann.

Seit 1994 haben sich laut Hofmann über 600 Wetzlarer Jugendliche im Forum beteiligt und den Erfolg des offenen Konzepts belegt. Etwa 100 Interessierte werden zurzeit zu den ein- bis zweimonatigen Koordinationstreffen eingeladen. "Die meisten kommen so im Alter von 12, 13 Jahren dazu, weil die Schulen in der siebten Klasse für das Forum werben", erzählt Lucas Treffenstädt, selbst 13 Jahre alt und seit knapp einem Jahr aktiv.

Lucas gehört genauso wie Anne und Philipp zum harten Kern von etwa 30 Personen, der sich in Arbeitsgruppen beispielsweise mit legalen Graffiti-Aktionen, der Gestaltung eines Jugendwagens für den Faschingsumzug oder in der Vergangenheit auch mit der Absenkung des Kommunalwahlalters auf 16 Jahre beschäftigt hat. "Die Jugendlichen haben natürlich auch kritisch über den Irak-Krieg diskutiert. Diese harten politischen Themen gibt es zurzeit aber nicht", sagt Jugendbildungswerk-Leiter Hofmann. Die im Jugendforum beschlossenen Initiativen werden – ähnlich wie Anträge von Wetzlars Stadtverordnetenfraktionen – an den Magistrat beziehungsweise die Stadtverordnetenversammlung zur Beratung weitergeleitet. Dort haben die "Jufo"-Aktiven in Ausschussitzungen Rederecht.

Von den Fraktionen im Parlament sei das Jugendforum wohl "ganz gut akzeptiert, sonst hätten wir nicht so viele Anträge durchbekommen", schätzt Anne Polzer. Bei der engagierten jungen Frau standen denn auch schon Vertreter von allen örtlichen Parteien auf der Matte, um sie für eine Mitarbeit zu gewinnen. Die Anfragen von CDU, SPD, Grünen, und Co. hat die 18-Jährige aber dankend abgelehnt. "Ich will mich lieber weiter überparteilich engagieren."

Infos über das Wetzlarer Jugendforum und die nächsten Sitzungstermine beim Jugendbildungswerk, Telefon 06441/995171

Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 9. Dezember 2004

"Elisabethstraße dicht machen: so ein Blödsinn"

Zur Person:
Lutz Heer
Lutz Heer wurde vor 41 Jahren in Wuppertal geboren. Der studierte Diplomkaufmann lebt mit seiner Familie imsüdhessischen Brachttal. Unter anderem war Heer als Referent eines Bundestagsabgeordneten in Bonn tätig. Seit etwa zehn Jahren ist er Geschäftsführer der Rudolf-Walter-Stiftung (Gründau), einer gemeinnützigen Organisation, die international – zwischen Guatemale und Gaza-Streifen – Kinderdörfer gründet, Schulen baut oder Hilfskonvois organisiert. Schon einmal war Heer CDU-Kandidat für einen OB-Posten: Allerdings durfte er in Hanau nicht zur Wahl um die Härtel-Nachfolge antreten, weil seinen Parteikollegen mit nummerierten Stimmzetteln ein Formfehler unterlaufen war.
Daniel Hajdarovic
Am 30. Januar wählen die Marburgerinnen und Marburger einen neuen Oberbürgermeister. Wir stellen die fünf Kandidaten nach und nach vor. Den Anfang macht Lutz Heer, der für die CDU ins Rennen geht.

Aus Altersgründen wird der amtierende Marburger Oberbürgermeister, Dietrich Möller (CDU), am 30. Januar 2005 nicht mehr antreten. Um seine Nachfolge bewerben sich Bürgermeister Egon Vaupel (SPD), Jan-Bernd Röllmann (FDP), Dr. Gregor Huesmann als Kandidat der MBL (Marburger Bürgerliste), Pit Metz für die PDS – und ein Mann der in Marburg bis vor kurzem kaum bekannt war: Lutz Heer von der CDU. Mit seinen 41 Jahren ist er der jüngste unter den fünf Bewerbern.

Express: Herr Heer, fühlen Sie sich als Verlegenheitskandidat? Marburgs CDU-Chef Christian Heubel wäre ja gern angetreten, wenn ihm die Kollegen den Fraktionsvorsitz gegönnt hätten. Mehrere andere Kandidaten waren auch im Gespräch, bis dann schließlich ihr Name auftauchte.
Heer: Ich fühle mich nicht als Verlegenheitskandidat. Das gehört zum politischen Geschäft, dass mehrere Personen diskutiert werden, und es spricht für die Partei, dass wir verschiedene Leute haben, die in Frage kommen. Außerdem bin ich nicht nur von Vorstand und Fraktion, sondern auch auf dem Parteitag von 100 Prozent der Delegierten gewählt worden, was durchaus ungewöhnlich ist. Wir sind also mit großer Geschlossenheit in den Wahlkampf gegangen.

Express: Sie sind vor diesem Wahlkampf in der hiesigen Kommunalpolitik noch nicht in Erscheinung getreten. Sie leben in Südhessen und sind in Gründau Geschäftsführer eines Kinderhilfswerks ...
Heer: Ich habe dort eine sehr befriedigende Stellung, konnte viele Erfahrungen sammeln. Dass ich mich vor zehn Jahren bei der Rudolf-Walter-Stiftung beworben habe, hatte die Vorgeschichte, dass ich bei Ausbruch des Bosnienkrieges – damals war ich in Wuppertal CDU-Vorsitzender des größten Ortsvereins – mit anderen zusammen einen Verein gegründet und Hilfsgüter zusammengestellt habe. Wir sind in die Frontstädte reingefahren und haben Hilfe gebracht. Das hat meinem Leben eine neue Wendung gebracht. Die Stiftung, für die ich heute arbeite, hat unter anderem drei Kinderdörfer und eine Schule im Gaza-Streifen gegründet.
Mich zieht es dort nicht weg. Aber mir liegt auch die Politik im Blut. Ich bin seit über 25 Jahren in der CDU, habe viel Stadtteilarbeit gemacht und war in Wuppertal schon in jungen Jahren Stadtverordneter.

Express: Warum nun aber Marburg, das ihnen zuvor nicht so vertraut war?
Heer: Wenn eine Anfrage – über Frank Gotthardt – aus einer Uni-Stadt wie Marburg kommt, ist das sehr reizvoll. Es gibt atmosphärisch kaum etwas Vergleichbares. Mittlerweile habe ich mich reingearbeitet in die Marburger Probleme, Gespräche geführt mit Leuten aus allen möglichen Bereichen, zum Beispiel aus der Wirtschaft oder von der Uni. Übrigens nehme ich fast jeden Abend zwei oder drei Termine in Marburg war, samstags sechs bis sieben. Aber in der hiesigen Zeitungslandschaft finde ich praktisch gar nicht statt. Das grenzt an Manipulation.

Express: Stichwort Uni: die Hochschulen sind zwar im Großen und Ganzen Ländersache, aber welche Bedeutung hat die Uni für die Stadtpolitik?
Heer: Da muss es einen ständigen Austausch geben. Vor Dietrich Möller hat es die regelmäßigen Gespräche zwischen Stadt und Uni gar nicht gegeben, dabei ist der Austausch allein schon für die Stadtplanung sehr wichtig. Beispiel Ketzerbach: Was brauchen wir dort breite Bürgersteige? Jetzt vielleicht nicht, aber wenn sich in dieser Gegend erstmal Fachbereiche von der Uni ansiedeln ...

Express: Was unterscheidet Sie stadtplanerisch von Rot-Grün?
Heer: Die überlegen, die Elisabethstraße dicht zu machen. So ein Blödsinn. Oder zum Beispiel die Parkplätze am Lahnufer: Die werden noch notwendiger, wenn durch die neue Nutzung des EAM-Gebäudes (u. a. als Behörde zur Hartz IV-Verwaltung; Anm. d. Red.) dort noch mehr Publikumsverkehr entsteht.

Express: Nennen Sie noch einen weiteren Grund, warum man Sie wählen sollte.
Heer: Ganz wichtig ist, dass es einen Ausgleich gibt zur rot-grünen Parlamentsmehrheit. Ein gemischter hauptamtlicher Magistrat hat ja auch in der Vergangenheit gut funktioniert. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Rot-Grün schon jetzt siegesgewiss die Posten verteilt, gefällt mir nicht.

Express: Sie wollen eine rot-grüne Alleinherrschaft verhindern. Wahrscheinlich ist es dafür nicht förderlich, dass sich gleich drei bürgerliche Kandidaten gegenseitig die Stimmen wegnehmen ...
Heer: Die Tatsache, dass drei bürgerliche Kandidaten antreten, zeigt, dass hier Einiges schief gelaufen ist in der Kommunalpolitik. Aber es wird auf eine Stichwahl zwischen Vaupel und mir rauslaufen.

Express: Hartz IV wird im Kern zwar nicht durch die Stadt Marburg, sondern durch den Kreis umgesetzt. Trotzdem die Frage: Ist es in Ordnung, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, obwohl das Hauptproblem im Mangel an Stellen besteht?
Heer: Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit Bewerbern kann ein wenig Druck gerade im Jugendbereich sinnvoll sein. Aber es darf natürlich nicht sein, dass jemand, der fünf Quadratmeter Wohnraum zu viel hat, aus seinem Umfeld gerissen wird.

Express: Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Daniel Hajdarovic



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