Express Online: Editorial | 7. April 2005

Fotowut

Dank ihr verbildlicht alles, woran wir uns gerne erinnern. Liebe Menschen, tolle Orte, waghalsige Aktionen. Per Knopfdruck fixierte Welt, komprimiert auf handliche zwei Dimensionen, beschnitten einzig durch die Objektivbrennweite. Ja, die Fotografie ist eine große Erfindung.

Und wurde digital. Ein megapixelstarker Bildrechner im Kippenschachtelformat findet in jeder Jackentasche Platz. Wo er spätestens seit Weihnachten blöderweise auch anzutreffen ist. Abertausende Belichtungen haben nimmersatte Speicherkärtchen seither zu schlucken. Zum Kotzen.

Tagsüber mag man die neu entdeckte Fotomanie noch ganz gut verdauen. Auch wenn der Umstand, stadtbummelnd von zahllosen Mikro-Linsen umschwirrt ins Visier genommen zu werden, übel aufstößt. Unerträglich wird's im Restaurant, in der Kneipe. Dämmerlicht wandelt ignorierbares Sonnenscheingeknipse in ein netzhautbeknüppelndes Blitzstakkato. Auf's halbvolle Bierglas. Auf'n großen Zeh. Auf'n leeren Aschenbecher – compact-geflashter Schrott, ohne geringsten geistigen Nährwert.

Noch vor wenigen Jährchen hätte man derart Motivblinden den abgelutschten Kaugummi auf die Linse geflanscht – sich aber zumindest gefreut, dass bei inflationärem Gebrauch auch ein XXL-36er-Film recht fix am Limit ist. Heute bleibt da nur leise zu hauchen: O Niepce, o Talbot! Balard und Daguerre, verzeiht.

Christian Schulze Wenning



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