Express Online: Editorial | 21. April 2005

Zeitenwende

Wenn junge Menschen voller Lebensfreude, Wissensdurst und Tatendrang in Kleingrüppchen sich neugierig in altbekannten Kneipen tummeln, dann ist klar: Das Semester hat begonnen. Damit der Neustudent auch weiß, worauf er sich einlässt, hat ihm die Universität ein buntes Heftchen "Studium im Marburg" zukommen lassen. Der Blick ins Innere zeigt Studentinnen und Studenten mit markanten Brillengestellen, Miniröcken und blumigen Badeshorts. Sie musizieren, diskutieren und kooperieren. Ja, so geht es zu im schönen Städtchen an der Lahn.

Aber irgendwie versprüht besagte Broschüre den Charme längst vergangener Zeuten. Nicht Retro, sondern Original. Fragt man den Herausgeber, erntet man den verschämten Konter: Die sollten gar nicht mehr in Umlauf sein. Sind sie aber. Wohl aus den Siebzigern, aber die Postleitzahlen sind schon fünfstellig. Ende Mai wird etwas "Zeitgemäßes" erscheinen.

Doch zeigt nicht der Umstand, dass alles, was es damals zu sehen gab und heute noch gibt, den wahren Charakter der Stadt? Und begrüßen uns nicht immer noch die Worte "Jesus lebt" an einer Hauswand? Wird all das Bestand haben in Anbetracht eines zeitgemäßen Hand-Outs? Werden nicht Innovation und Exklusivität von Softwarecenter und Sorathotel die alte Hochschule mit dem morbiden Charme in eine elitäre Wissensfabrik verwandeln? Sicherheitshalber, Heftchen sammeln. In der neuen Zeit könnte daraus eine Geldanlage werden.

Dana Risse


Express Online: Editorial | 21. April 2005

Gießener Schule

Die Eröffnung des Groß-Einkaufszentrums "Galerie Neustädter Tor" im Oktober rückt unaufhaltsam näher. Am Freitag war Richtfest, die Investoren sparten dabei nicht mit Eigenlob. Der Stand der Vermietungen überträfe die Erwartungen. Und schon jetzt sei erkennbar, "dass dieses Objekt eine Seele hat".

Ob die von der IHK als überdimensioniert kritisierte Mall ein Erfolg wird, bleibt abzuwarten. Immerhin eint die drohende Konkurrenz die ansässigen Einzelhändler und Hauseigner. Um dem von vielen befürchteten Verdrängungswettbewerb durch die GNT zu begegnen, rüsten sie sich nach nordamerikanischem Vorbild: Händler und Hauseigner wollen so genannte "Business Improvement Districts" (BIDs) einrichten, um die Innenstadt aufzumöbeln. Damit die Kunden auch weiter durch einen – aufgehübschten – Seltersweg flanieren und ihre Geschäfte in der Fußgängerzone besuchen, anstatt nur noch in der Galerie Neustädter Tor Halt zu machen.

Das Modell zur Innenstadt-Verschönerung könnte sogar Schule machen: Angeregt durch die Gießener Initiative, arbeitet die Landesregierung inzwischen an einem Gesetzentwurf für BIDs.

Georg Kronenberg



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