Express Online: Editorial | 15. September 2005

Kunstfehler

Am "Tag des offenen Denkmals" ist die schale Suppe des kulturpolitischen Geschmacks wieder einmal perfekt gelungen. Das öffentliche Geschrei, das das sogenannte "Greif-Denkmal" im Zuge der Umwidmung in die allgemein mahnende Skulptur "Trauernde Witwe" des Künstlers Matthes I. von Oberhessen auslösen konnte, war schon weit im Vorfeld bis über die Stadtgrenzen zu hören. Von kommunistischen Friedensaktivisten bis zur SPD fürchteten viele eine rückwirkende Verklärung des nationalsozialistischen Kampfgeschwaders "Greif 55", das bis Ende des Zweiten Weltkrieges in Gießen stationiert war und mit seinen Bombardements englischer Städte den Luftkrieg über Deutschland mit provoziert hat. Erst in letzter Instanz unterband Kulturdezernent Kaufmann die Wiederaufstellung des Blechadlers, der einem fragwürdigen Traditionsverband – der auch in Zukunft die Hege des Denkmalgeländes übernehmen darf – im Andenken an das Greif-Geschwader als Kennzeichen dient.

Dass die symbolische Abschwächung wirklich in allerletzter Sekunde geschehen musste und eine endgültige Entscheidung über den Greifvogel politisch noch immer aussteht, ist sicher nur einer der Kunstfehler, die in diesem Zusammenhang gemacht wurden. Dass angekündigte Gegendemonstranten samt Gastredner Eberhard Richter darauf spontan absagten, ist ebenso peinlich wie einige verirrte Transparente à la "No tears for Krauts" am Rande der sonntäglichen Einweihung.

Eine lächerliche Finanzierungsstrategie ohne vorherige Ausschreibung, die von der Schenkung seitens des Künstlers über öffentliche Kostendeckungen von 10.000 Euro, Sponsorengelder und eine plötzlichen Scheck von Innenminister Bouffier reicht, war ein zusätzlicher Fehltritt, der schlussendlich auf dem Rücken der Kunst ausgetragen wurde. Dabei müsste doch seit Adorno hinreichend bekannt sein, dass die Kunst vielleicht nicht zweckfrei, aber doch zumindest frei vom Mäzenatentum politischer Agitation sein sollte: Denn "angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst ihr unausweichlich zum Unerträglichen geworden."

Rüdiger Oberschür



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