Express Online: Thema der Woche | 27. Januar 2005

Ohne Wanstreißen

Info: Positionen der Kandidaten
Wer noch einmal nachlesen will, wie das Kandidatenquintett sich inhaltlich positioniert, kann die Express-Interviews in unserem Online-Archiv nachlesen oder sich über die jeweilige Homepage informieren: www.egon-vaupel.de, www.heer-fuer-
marburg.de
, www.Gregor-
Huesmann.de
, www.Roellmann.de bzw. für Pit Metz unter www.pds-marburg.de.
Daniel Hajdarovic
Erst seit 1993 können die Bürgerinnen und Bürger in Hessen ihren Oberbürgermeister direkt wählen. Warum die Marburgerinnen und Marburger am Sonntag, 30. Januar, von diesem Recht Gebrauch machen sollten

Üble Sache das: Die Feier soll mit einem Grußwort eröffnet, der neue Turnraum des Kindergartens eingeweiht werden, im Theater gibt es eine Premiere oder hier und da ein Jubiläum zu begehen – und bei all diesen und vielen anderen offiziellen und halboffiziellen Anlässen ist mit schöner Regelmäßigkeit ein Stadtoberhaupt präsent, das bei den Gästen nur Fluchtgedanken, Kopfschmerzen oder Bauchgrimmen, gar Wanstreißen auslöst. Nein, das ist nicht die Mär eines Politikverächters, sondern bis 1993 potentielle hessisch-hässliche Wirklichkeit.

Vor diesem Zeitpunkt nämlich wurde der Oberbürgermeister (selten: die Oberbürgermeisterin) von den Parteien, die im Stadtparlament über eine Mehrheit verfügen, gemeinsam "ausgekungelt", was nicht zwangsläufig zu einem schlechten Kandidaten führen musste.

Es konnte aber auch ein Unsympath sein, der auf Grund diverser Rücksichten und als kleinster gemeinsamer Nenner der Koalitionäre und Interessengruppen stets nur allgemeine Verlegenheit provozierte. Weit angenehmer ist da ein Oberbürgermeister, der sich einer gewissen Beliebtheit erfreut – zumal Bürgerinnen und Bürger, die am öffentlichen Leben teilnehmen, gerade in weniger großen Städten zwangsläufig immer mal auf selbigen treffen. Und vielleicht ohne große Hemmungen eine passende Gelegenheit nutzen wollen, um das Gespräch zu suchen und darauf hinzuweisen, wo der Schuh drückt.

Gut also, dass dieser Posten sozusagen direkt durch's Volk vergeben wird. Da dürfte sichergestellt sein, dass zumindest der größere Teil der Bevölkerung die häufigen Auftritte, die dieser Posten mit sich bringt, nicht als unangenehme Begegnung der dritten Art erlebt.

Freilich geht es auch bei einer Direktwahl nicht nur um Sympathien, sondern ebenso um Inhalte, für die Person X oder Y steht. Wirklich sauber trennen lassen sich diese beiden Faktoren aber bei einer Persönlichkeitswahl eher nicht. Was Inhalte und Positionen betrifft, seien noch unentschlossene Wählerinnen und Wähler auf die Express-Interviews mit den fünf Kandidaten in unserem Online-Archiv sowie auf die jeweiligen Homepages des Quintetts hingewiesen (siehe Info-Kasten).

Der erste direkt gewählte OB in Marburgs Historie war übrigens Dietrich Möller (1993), der gar 1999 noch einmal im Amt bestätigt wurde, nun aber wegen fortgeschrittenen Alters nicht mehr antreten darf. Mit dem 30. Juni 2005 wird seine Amtszeit auslaufen. Sein aussichtsreichster Gegenkandidat war 1999 Bürgermeister Egon Vaupel, der aktuelle Favorit für die nun anstehende Wahl. Vaupel zwang Möller damals zwar in die Stichwahl, musste sich im direkten Vergleich aber mit 46,5 zu 53,5 Prozent Möller geschlagen geben. Ob Vaupel im zweiten Anlauf mehr Erfolg hat, entscheidet sich vielleicht schon am Sonntag – zumindest für den Fall, dass er die absolute Mehrheit erringt. Ansonsten würden sich die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen noch einmal zur Stichwahl am 13. Februar gegenüberstehen.

Keine strippenden OB-Kandidaten

Was wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen: Theater Gegenstand hatte die Kandidaten vor ein paar Wochen zu einem Gastauftritt bei "Ladies Night" eingeladen. Doch "trotz der langen Tradition von Spaßauftritten deutscher Bundespolitiker", so die Theaterschaffenden, wollte keiner aus dem Quintett die Möglichkeit nutzen, durch ein "Vorstrippen" in der Waggonhalle womöglich seine Wahlaussichten zu steigern.

Dennoch gab es wissenswerte Begründungen für die Absage – im Fall von Egon Vaupel und Pit Metz sind wir ausdrücklich autorisiert, sie abzudrucken:

Egon Vaupel: "Sie wissen, dass meine Frau Rita eine begeisterte Anhängerin von Ladies Night ist. Aber sie hat mir auch unmissverständlich klar gemacht: 'Dein Body gehört nicht in dieses Stück, sondern mir!' Soll ich mir ausgerechnet durch einen Auftritt bei Ladies Night die Sympathien meiner 'First Lady' verscherzen? (...)"

Pit Metz: "Es schmeichelt zwar in außergewöhnlichem Maße meiner Eitelkeit, als Gast-Stripper vor tausenden von begeisterten, auch weiblichen Menschen meinen gestählten und begnadeten Körper in aufreizender Weise präsentieren zu können, aber (...) ich kann mir meine Wähler nicht dadurch verprellen, dass ich ihren Konkurrenzneid wecke. (...) Außerhalb des Wahlkampfes bin ich zu jeder Zeit für jeden Spaß zu haben. Ich leg' euch einen table-dance hin, der sich gewaschen hat. Die Frauen werden sich in Sehnsucht verzehrend wälzen (...). Man nennt mich auch 'Prickel-Pit'. (...) nach der OB-Wahl stehe ich zu meinem Wort, auch auf die Gefahr hin als Amtsträger zu kommen."

Jan-Bernd Röllmann: "Leider muss ich ein Engagement an ihrem Theater ablehnen, da meine derzeitige Lebensplanung eine solche Tätigkeit nicht erlaubt. Aber es gibt ja genügend andere gut gebaute, bühnenfüllende Kandidaten. Ich habe mich jedoch sehr über Ihr Angebot gefreut!"

Daniel Hajdarovic


Express Online: Thema der Woche | 27. Januar 2005

Man feiert Schiller

Die nächsten Vorstellungen:
29. Januar, 11., 13., 26. Februar sowie 9. und 19. März jeweils um 19.30 Uhr im Stadttheater Gießen. Karten unter Tel. 0641/7957-60; 61
Rüdiger Oberschür
Vor 200 Jahren verstarb der große Dichter deutscher Klassik. In einem Leben voll Sturm und Drang erklärte er das Theater zur Schaubühne einer moralischen Anstalt und den Idealismus der Freiheit zum absoluten Sinn. Am Stadttheater erinnert nun sein Don Carlos bedingt an jene kämpferische Haltung.

In Friedrich Schillers Gedankengebäude gab es bis zu seinem Tod kein Abweichen von der eigenen Norm. Auch wenn etwa die späteren Auswucherungen der französischen Revolution ihn zutiefst erschütterten. Seinem Gönner, Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, schildert er im Sommer 1793 in einem Brief sein persönliches Entsetzen über die außer Kontrolle geratene Barbarei in Paris. Sein Traum lag in Trümmern, der zu Entstehungszeiten seines Mammutdramas "Don Carlos" 1787/88 allerdings noch wild blühte.

In dem dramatischen Gedicht, das seine fünf Akte aus über 5000 Blankversen schöpft, steht der idealistische Jüngling dem totalitären Vater und König gegenüber. Die Liebe zur Stiefmutter Elisabeth Valois und die politischen Differenzen über das koloniale Treiben der Spanier in Flandern, bilden die breite Spielfläche der Kernkonflikte.

Am Stadttheater Gießen zeigt nun der junge Regisseur Titus Georgi – ein Flimm-Schüler, der eigentlich schon Bühnen wie das Schauspielhaus Bochum gewöhnt ist -, dass dies weite Feld der Auseinandersetzung es schwer macht, eine eindeutige Entscheidung zugunsten schlüssiger Transparenz zu treffen. Kurz gesagt: Wer zuviel aufräumt, hat die Suche bereits aufgegeben.

Schon Bertolt Brecht schrieb 1926, dass die alten, klassischen Dramen nur noch in ihren Stoffen zu gebrauchen und vor allem unter neuen Gesichtspunkten zu inszenieren seien. Ein einziger entschiedener Gesichtspunkt hätte hier vielleicht auch schon gereicht.

Öffnet sich in Titus Georgis Inszenierung der Vorhang, ist die Welt zunächst in formaler Ordnung. Eine imposante Bühne eröffnet die räumlichen Möglichkeiten für jenen adeligen Vater-Sohn-Konflikt. Bühnenbildnerin Katja Wetzel hat glänzenden Marmor unter die Füße der Schauspieler gebaut, auf dem sich vor allem die feinen Lichteffekte und Videoprojektionen von Alexander Joseph und Till Harms visuell recht gut machen. Die Übergänge zwischen den Akten werden durch überdimensionale Schwarzweißbilder untermalt. Sie fungieren ähnlich wie das häufige Laufen der Schauspieler gegen die Richtung der Drehbühne als Sinnbild für den abgründigen Lauf der Dinge.

Mit modernen Mitteln soll die historische Handlung daherkommen. Alle Schauspieler sind in die Mode von H&M bis Haute Couture gehüllt. Mit silbergrauer Stimmung werden die Verhältnisse regelrecht eingefroren. Zwischen Peter Anger als starrköpfigem König Philipp II. und Isaak Dentler, der hier in seiner ersten Hauptrolle am Stadttheater dessen revoltierenden Sohn Don Carlos gibt, ist jede Wärme schon lange verloren gegangen. Das ist eines der wenigen emotionalen Verhältnisse, die man der Inszenierung eindeutig entnehmen kann. Regisseur Georgi kommt da mit lediglich neun Schauspielern und etwas Statisterie aus, einige Rollen wurden ersatzlos gestrichen.

Was die Figuren in ihren Beziehungen allerdings umtreibt, bleibt trotz moderner Mittel (Carolin Weber etwa wird als Prinzessin Eboli später E-Gitarre statt Laute bedienen), hinter der Schillersprache zurück. So aufgeräumt die Inszenierung eingerichtet ist, so steril erfroren die Welt sein will, so gehetzt und undeutlich stehen die Versinhalte der Figuren im Raum. Trotz umfassender Strichfassung des längsten Stückes deutscher Bühnenliteratur, entstehen unverständliche Längen. Unverständlich auch deshalb, weil die genannten Mittel ja gerade dazu aufgefordert hätten, das von Schiller ursprünglich als fürstliche Familientragödie konzipierte Drama abseits der überhöhten Blankverse in einem Kernkonflikt zu erzählen.

Stattdessen reiben szenische Umsetzung und dramatischer Text wie ein ungeöltes Zahnrad ineinander. Und wo Georgi den Schwerpunkt seiner Interpretation ansiedelt, wie etwa die Parameter im Vater-Sohn-Konflikt gewichtet sind, bleibt unklar. Zu viele Aufräumaktionen erschweren scheinbar die Suche.

Auch wenn Hauptdarsteller Isaak Dentler so leidenschaftlich wütet und verzweifelt, wozu die Weiten der Marmorbühne ihm genug Platz lassen, spielt die Inszenierung sich von Anfang an blutleer. Das Premierenpublikum reagierte dann auch verhalten und einige vereinzelte Buhrufe müssen geschmerzt haben, beim einzigen Spielplanbeitrag des Stadttheaters Giessen zum Schiller-Jahr 2005.

Rüdiger Oberschür



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