Express Online: Thema der Woche | 31. März 2005

"Alleine könnten die das nicht hinkriegen ..."

Ein-Euro-Jobber in Betreuungs- und Pflegetätigkeiten. Der Express sprach mit Betroffenen und den Einrichtungen, die von ihnen profitieren

600.000 Menschen sollen laut Wolfgang Clement in Zukunft in "Ein-Euro-Jobs" arbeiten. Zum günstigen Preis könnten Erwerbslose Aufgaben der mit immer weniger Geld und Personal ausgestatteten Kommunen und Wohlfahrtsverbände übernehmen: Vom Mülleimer streichen über die Homepagepflege bis zur Betreuung und Pflege von Alten und Kindern. Als Ersatz für den Zivildienst werden die öffentlich geförderten Zusatzjobs schon länger gehandelt. Der Express sprach mit Mitarbeitern, Geschäftsführung und einem Ein-Euro-Jobber der Marburger Lebenshilfe.

Karl-Heinz Brosius ist ein stattlicher Mann mit dunklen Haaren und Schnauzbart. Der 1-Euro-Jobber trägt ein rot-schwarz kariertes Hemd und Jeans, um ihn herrscht reges Treiben. 23 behinderte Frauen und Männer arbeiten in dieser Gruppe der Lebenshilfe in den Lahnwerkstätten Wehrda. Sie setzen Schraubenzieher für VW, Wezak-Zangen sowie Verschraubungen aus mehreren Einzelteilen zusammen. Brosius leitet die Beschäftigten gemeinsam mit dem Gruppenleiter und einer weiteren Kraft an und betreut sie. Eigentlich ist er gelernter Stahlbauschlosser und hat keine Erfahrung mit Behinderten. Aber trotz anfänglicher Bedenken macht ihm die Arbeit in der Werkstatt inzwischen Spaß.

Der Vater einer erwachsenen Tochter ist seit 1996 erwerbslos. Rund 200 Bewerbungen hat er seitdem geschrieben: "Aber natürlich habe ich nur Ablehnungen bekommen". Der 54-Jährige glaubt nicht daran, in seinem Alter noch mal eine Stelle zu finden.

Im Herbst letzten Jahres hat er sich, damals noch freiwillig, bei der Agentur für Arbeit um eine "Arbeitsgelegenheit" beworben. Seit dem 25. Oktober 2004 arbeitet er in den Werkstätten der Lebenshilfe, 30 Stunden pro Woche, sechs Stunden täglich. Die Bezahlung, oder besser gesagt: der "Mehraufwand" ist mager: Im Monat kommt er auf rund 180 Euro zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Zusammen entspricht das in etwa seinem alten Arbeitslosenhilfe-Satz. "Mit dem Geld bin ich natürlich nicht zufrieden – wer ist mit 1,50 Euro schon zufrieden?", fragt Brosius. Doch der Zusatzverdienst sei besser als nichts und so komme er wieder unter Leute. Vor Weihnachten habe er außerdem jeden Euro gebraucht. Und das obwohl er sich finanziell schon lange einschränkt, Haftpflicht- und Hausrat-Versicherungen sowie Premiere längst abbestellt hat.

In den Lahnwerkstätten können sie Karl-Heinz, wie er von seinen Kollegen genannt wird, gut gebrauchen: Die Personaldecke der Betreuer der Gruppe ist dünn. Zwei Festangestellte kümmern sich um 23 Behinderte, zusätzlich gibt es eine Praktikantin und den 1-Euro-Jobber. "Gestern war ich mit dem Gruppenleiter alleine, das ist fast nicht zu machen", meint Brosius und fügt hinzu: "Die brauchen auf jeden Fall Leute, alleine könnten die das nicht hinkriegen."

Ein-Euro-Jobber als Ersatz für "normale" Jobs oder Zivildienst?

Könnten Ein-Euro-Jobber reguläre Arbeitsplätze verdrängen, wie die Gewerkschaften befürchten? Alfred Nowak, Heilerziehungspfleger und Leiter der Gruppe von Brosius, hält das zumindest für seinen Bereich für unwahrscheinlich. Die Ein-Euro-Jobber würde zwar eine Unterstützung darstellen, alleine wären diese jedoch mit den Verhaltensauffälligkeiten der behinderten Mitarbeiter/innen seiner Gruppe überfordert, so Nowak. Und auch Wolfgang Zöller, Geschäftsführer der Marburger Lebenshilfe, betont keine regulären Beschäftigungsverhältnisse oder Außenaufträge durch die Ein-Euro-Jobber einsparen zu wollen.

Dass die "Arbeitsgelegenheiten" Zivildienststellen ersetzen könnten, ist für Zöller dagegen durchaus vorstellbar. Familienministerin Renate Schmidt hatte dies vor Monaten ins Gespräch gebracht. "Viele Träger suchen händeringend nach einem Ersatz für den Zivildienst", klagt der Geschäftsführer.

Bei der von der Lebenshilfe angebotenen Rund-um-die-Uhr-Betreuung gebe es immer einen höheren Bedarf als Personal da sei, so Zöller. Hilfstätigkeiten im Bereich der Pflege und Betreuung können seiner Ansicht nach auch von nicht-qualifizierten Kräften ausgeführt werden. "Man braucht kein ausgebildeter Heilerziehungspfleger zu sein, um mal mit einer Person um den Block zu gehen", so Zöller, dem auch noch andere "zusätzliche" Arbeiten einfallen, die Ein-Euro-Jobber erledigen könnten: Die Wohnstätten könnten öfter gestrichen und Reparaturen schneller durchgeführt werden.

Auch im "Fall" von Karl-Heinz Brosius war es so, dass vor ihm ein Zivildienstleistender in der Gruppe mitgearbeitet hat. Wirft man darüber hinaus einen Blick auf die Bereiche, in denen die Ein-Euro-Jobber bei der Lebenshilfe arbeiten, weisen diese bereits jetzt erstaunliche Parallelen zu Zivi-Tätigkeiten auf: Acht der 16 Ein-Euro-Jobber sind im Bereich Betreuung und Pflege, drei im Fahrdienst tätig. Leute wie Brosius erledigen bei der Lebenshilfe aber auch Hausmeistertätigkeiten, arbeiten in der Hauswirtschaft, der Produktionshilfe und im Telefondienst.

Der Erste Kreisbeigeordnete Dr. Karsten McGovern sieht im Bereich der Pflege ebenfalls Möglichkeiten für Arbeitsgelegenheiten. Pflegenahe Dienstleistungen und Haushaltsdienstleistungen können dem Grünen-Politiker zufolge von Ein-Euro-Jobber/innen erbracht werden. Diese könnten "Besorgungen und Einkäufe erledigen, sich ein paar Stunden um einen Demenzkranken kümmern und so die Hauptpflegeperson entlasten," so McGovern. Bereits heute würden Ein-Euro-Jobber/innen im Landkreis nachmittags Grundschulkinder betreuen. Und in den Kindertagesstätten der Stadt Marburg sind auch schon fünf Ein-Euro-Jobber/innen beschäftigt. Beantragt hatte die Kommune sogar zwanzig.

Welche Dimensionen das im bundesweiten Maßstab annehmen könnte, hat der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Werner Hesse, im vergangenen Jahr angekündigt: 100.000 bis 200.000 Stellen könnten längerfristig im Bereich der Pflegedienste mit Arbeitsgelegenheiten besetzt werden. Und auch für die Besetzung von 35.000 Tagesmütter-Stellen werden die Ein-Euro-JobberInnen gehandelt.

Gewerkschaften befürchten Abbau von Stellen und Qualitätsverlust in Pflege und Betreuung

Gewerkschaften und Sozialverbände befürchten durch den Einsatz der Ein-Euro-Jobber/innen den Abbau regulärer Stellen sowie einen Qualitätsverlust in der Pflege. Der Sozialverband Deutschland warnt: Wenn Langzeitarbeitslose gezwungen würden, für einen oder zwei Euro in der Stunde alte Menschen zu pflegen, werde es zu mehr Gewaltanwendung und gesundheitlichen Schäden an alten Menschen kommen. Die Deutsche Hospiz-Stiftung bezeichnet die Ein-Euro-Jobs gar als "Sargnagel für Qualität in Pflege und Betreuung". Ihre Einführung könnte einen weiteren Abbau geschulter Pflegekräfte zur Folge haben.

Der Marburger DFG/VK bezweifelt außerdem die vom Gesetz geforderte "Zusätzlichkeit" der Tätigkeiten, die Personen in Arbeitsgelegenheiten ausüben. Hier könne man vom Zivildienst lernen. Zivis hätten, genau wie jetzt 1-Euro-Jobber, offiziell immer schon nur "zusätzliche" Tätigkeiten erfüllen dürfen. Das Kriterium der "Zusätzlichkeit" sei jedoch vom Bundesamt für den Zivildienst nie kontrolliert worden. Flächendeckende Erkenntnisse über seine Arbeitsmarktneutralität lägen daher nicht vor. Eine vom Familienministerium 2002 publizierte Untersuchung über den Teilbereich des Rettungsdienstes sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass "den Arbeitsleistungen der Zivildienstleistenden" der "Charakter der Zusätzlichkeit" abgesprochen werden müsse.

Petra Schmittner


Express Online: Thema der Woche | 31. März 2005

"Kritik ist der Auftrag, das Spiel die Form"

Dr. Dirk Olaf Hanke, der (nicht mehr ganz) neue Schauspieldirektor und Chefdramaturg des Gießener Hauses, der bereits maßgeblich beteiligt war an der Spielplangestaltung ../2004/2005, äußert sich gegenüber dem Express zu seinen Visionen von Theater und zu den Gründen für den Besucherzuwachs des Gießener Stadttheaters

Express:: Was ist denn für den Schauspieldirektor Dr. Hanke das Faszinierende am Theater ?
Dirk Olaf Hanke: Zunächst einmal ist das Theater für mich Lebensraum. Ein Ort, der wie kaum ein anderer die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet. Es ist zum einen Arbeitsstätte und zugleich auch der Ort, an dem Phantasien lebendig werden, geradezu Realität. Das darstellende Spiel ist eine Inszenierung der Wirklichkeit. Insofern ist das Theater eine Spielwiese, zum Beispiel für Phantasien. Das wird auch deutlich am Thema dieser Spielzeit, der Frage nach der gemeinsamen Zukunft. Die Suche nach gemeinsamen Lösungsvorschlägen, nach Visionen und die Aufforderung dazu: "sucht".
Diese Aufforderung geht an die Gesellschaft, unsere Besucher, und wir bieten dazu Anschauungsmaterial und zeigen unsere Sicht der Dinge.

Express:: Das Theater als Ort des Lernens und zugleich Quelle visionärer Ideen ...
Hanke: Ja, sicher. Theater kann / soll lehren, aber nicht belehren. Die künstlerische Freiheit, etwas so oder so darzustellen, nehmen wir uns. Wichtig ist der gesellschaftliche Kontext, in dem Theater stattfindet. Theater ist kein Selbstzweck, sondern Theater hat einen Auftrag. Man könnte es etwa so formulieren: (Gesellschafts-) Kritik ist der Auftrag, das (Theater-) Spiel die Form. Theater fordert auf zum Dialog.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es uns sehr gut tut, zu sehen, dass die Zahl der jungen und jugendlichen Zuschauer stark gestiegen ist. Diese Entwicklung macht Mut und ist ein Beleg für die Dialogbereitschaft dieser Besuchergruppe. So haben wir mit "Frühlings Erwachen" und "Die sexuellen Neurosen ..." gerade bei den jungen Theaterbesuchern großes Interesse geweckt und Beifall gefunden. Das ist auch insgesamt nicht verwunderlich, denn diese Stücke haben genau das zum Inhalt, was die Heranwachsenden beschäftigt.

Express:: Das ist bei den Klassikern nicht so?
Hanke: Doch, auch hier ist die Nachfrage enorm. Klassiker sind Klassiker, weil sie zeitlos sind. Nehmen wir "Don Carlos". Verkürzt gesagt rebelliert in diesem Klassiker die Jugend gegen das Alter, ein Generationenkonflikt. Wer hier ein Kostümstück erwartet hat, der wurde sicher enttäuscht. Titus Georgi, mit dem ich früher schon erfolgreich zusammen gearbeitet habe, hat dieses Schiller Drama über die Sprache und die Kostüme in unsere Zeit transportiert, geradezu aktualisiert. Auch hier ist der Anteil der jugendlichen Besucher sehr hoch.

Express:: Der Focus des Theaters ist also darauf gerichtet, Jugendliche und junge Erwachsene für dieses Medium zu begeistern?
Hanke: Ich wiederhole, was ich oben gesagt habe: Das Theater als Spielwiese, als Inszenierung der Wirklichkeit. Die Situation der jungen Menschen in der Gesellschaft gibt Anlass zur Sorge, in vielfacher Hinsicht. Wenn wir bei unserem Thema für diese Spielzeit, die Zukunft, einen Dialog führen wollen, dann doch am ehesten mit denen, die es vor allem betrifft. Wir fordern auf – sucht – und bieten über das darstellende Spiel und die Form der Inszenierung Anregungen für Lösungsmöglichkeiten. Insofern erfüllt das Theater über den angeregten Dialog viel mehr als nur einen Bildungsauftrag. Gerade hier in Gießen klappt das sehr gut und es ist bemerkenswert zu sehen, aus welchen unterschiedlichen Gruppierungen und Schichten sich das Gießener Theaterpublikum zusammensetzt.
Die steigenden Besucherzahlen haben mehrere Gründe. Zum einen ist es sicher auf die sehr gute Arbeit, die das gesamte Ensemble leistet, zurückzuführen, zum anderen drückt sich in der Steigerung des Publikumsinteresses auch eine vermehrte Bildungsanstrengung aus, die schon seit einiger Zeit deutschlandweit zu beobachten ist. Speziell für Gießen und das Stadttheater bedeutet dies, dass sich die Bevölkerung über den Besuch mit dieser Einrichtung zunehmend identifiziert.

Express:: Herr Dr. Hanke, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: ulish



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