Express Online: Thema der Woche | 21. April 2005

Fundstück am Fluss

Archäologen haben unter dem ehemaligen Luisabad am Fuß der Marburger Oberstadt eine große, spätmittelalterliche Wehranlage für die Herrenmühle entdeckt. Bezirksarchäologie Dr. Andreas Thiedmann geht davon aus, dass der Fund für Hessen einmalig ist. Erhalten wird er allerdings nicht.

Dass sie auf eine Wasser-Wehranlage stoßen würden, ahnten die Fachleute zu Beginn der Grabung vor wenigen Wochen nicht: "Das war bislang völlig unbekannt", sagt Thiedmann. Doch dann legten sie einen Teil der Wehranlage frei, die vermutlich einst 30 bis 40 Meter lang war. "Das ist wohl eine Premiere für Hessen", schätzt der Bezirksarchäologe. Die vermutlich im 14. Jahrhundert errichtete Anlage sorgte für das Wasser, mit der die Herrenmühle angetrieben wurde, die das Getreide für die Bewohner des Landgrafenschlosses lieferte. Dazu wurde ein Abzweig der Lahn, der heute in Rohren unter der angrenzenden Straße liegende Mühlgraben, zur Herrenmühle gelenkt.

Die einstige Wehranlage wird aber nun der "kontrollierten Zerstörung" preisgegeben, so Thiedmann. Die Marburger Bank baut an dieser Stelle nämlich ihr neues Kundenzentrum mit einer Tiefgarage. Wo jetzt die Mauern des alten Wehres stehen, sollen schon in einem Jahr Autos parken. Um die Funde zu erhalten, müsste jedoch ein "unvertretbar hoher Aufwand" betrieben werden, der in keinem Verhältnis zum Gewinn stünde, meint der Bezirksarchäologe: "Hier einen Teilausschnitt zu präparieren, macht keinen Sinn."

Dass es keinen großen Interessenkonflikt geben wird, freut Jürgen Puberitz vom Vorstand der Marburger Bank. Schließlich bräuchten sie das Bauvorhaben unbedingt. Stattdessen will das Geldinstitut nun einen anschaulichen Ausschnitt der ehemaligen Wehranlage vor dem zukünftigen Bankgebäude präsentieren sowie eine Ausstellung mit Fundstücken und einer Dokumentation der Grabung zeigen.

Entdeckt wurden neben der Wehranlage noch mittelalterliche Scherben von Tellern und Schüsseln, Gürtelschnallen, Bleisiegel sowie ungewöhnlich viele Eisennägel, Näh- und Stecknadeln. Möglicherweise habe es eine Schneiderwerkstatt in den Nähe des Mühlgrabens gegeben, mutmaßen die Fachleute. Die genaue Auswertung der Funde ist allerdings erst in den nächsten Monaten möglich.

Nur wenige Meter entfernt unter dem ehemaligen Biegeneck und dem heutigen Sorat-Hotel hatten die Archäologen vor elf Jahren so viele gut erhaltene Gefäße gefunden wie in bis dahin noch keiner anderen mittelalterlichen Stadt. Die Funde boten einen ungewöhnlichen Einblick in einen Alltagsbereich mittelalterlichen Lebens und Treibens. Anhand der Keramikgefäße aus dem 14. und 15. Jahrhundert ließ sich rekonstruieren, dass es am Biegeneck damals ein mittelalterliches Gewerbegebiet gab. Mehr als 40 Fischreusen zeigten, dass hier einst Fischer lebten. Neu für die Stadtgeschichte war auch, dass im 15. Jahrhundert Gerber am Mühlgraben lebten.

Allerdings entstand während des Hotelbaus ein "archäologischer Jahrhundertschaden", wie es der damalige Bezirksarchäologe Lutz Fiedler nannte. Ein großer Teil der mittelalterlichen Geschichte am ehemaligen Mühlgraben wurde schlicht weggebaggert. Die Altertumsforscher mussten zuschauen, wie bei den parallel verlaufenden Bauarbeiten Fundstücke aus der Baggerschaufel herauspurzelten.

Auch auf dem Gelände des früheren Luisabades – Marburgs größter Baustelle – haben die Ausschachtungsarbeiten für das Bankgebäude schon begonnen. Die archäologische Untersuchung war jedoch frühzeitig vereinbart worden.

Trotzdem erhebt sich bereits Kritik. Der Historiker Gert Meyer von der Interessengemeinschaft Marburger Stadtbild und Stadtentwicklung plädiert für eine Erhaltung der Wehranlage: "Sie zugunsten einer Tiefgarage zu vernichten, finde ich sehr schade."

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 21. April 2005

Studieren mit Kind ...

... gilt bisher eher als Notfall. Das soll sich an der Universität Gießen künftig ändern. Die Hochschule will in einem vierjährigen Modellprojekt die Vereinbarkeit von Studium und Familie deutlich verbessern

Um Hochschulen familienfreundlich zu gestalten muss viel getan werden – und längst nicht nur in Gießen, weiß Uta Meier-Gräwe, Professorin für Haushalts- und Familienwissenschaften an der Universität Gießen und Leiterin des Modellprojekts "Studieren mit Kind". Besonders die Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren seien Mangelware, berichtet sie. Und schon alltägliche Kleinigkeiten wie zum Beispiel die Buchausleihe würden mit Kind oft zur Hürde. Denn einen Platz, wo ein Kleinkind warten kann, während Mama oder Papa in der Bibliothek sind "werden sie nirgends finden. Daran hat niemand gedacht", sagt Meier-Gräwe.

So brechen Studierende mit Kindern ihr Studium auch laut einer bundesweiten Untersuchung aus dem Jahr 2002 überproportional oft ab. "Entscheidend sind weniger Versagensängste oder eine fehlende Studienmotivation, sondern vielmehr die schlechten Bedingungen für die Verbindung von Studium und Familie an den jeweiligen Studienstandorten", berichtet Meier-Gräwe.

In Zusammenarbeit mit der Kommune und weiteren lokalen Partnern sollen in dem vierjährigen Modellprojekt deshalb passgerechte Maßnahmen für das Studium mit Kind entwickelt und erprobt werden. Dazu gehöre, dass studentische Eltern Hilfe bei der Wohnungssuche bekommen oder spezielle Studienverlaufspläne erstellt werden, die ihre besondere Situation berücksichtigen, sagt Meier-Gräwe."Zum ersten Mal werden in einer deutschen Universitätsstadt Studierende und Lehrende wiederholt in Tiefeninterviews gründlich über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen mit Kind befragt und begleitet mit dem Ziel, konkrete Maßnahmen vor Ort zügig umzusetzen."

Die Vorteile einer frühen Elternschaft bereits während des Studiums sollen dabei herausgestellt werden. Das Modellprojekt wurde von der 2001 vom hessischen Sozialministerium gegründeten Hessenstiftung in Auftrag gegeben und wird mit 130.500 Euro von der Stiftung finanziert. Anlass ist die hohe Kinderlosigkeit unter Akademikern: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hatten 2001 in Westdeutschland von den 30- bis unter 35-jährigen Akademikerinnen mehr als 62 Prozent keine Kinder. Derzeit bleiben über 40 Prozent der Frauen, die einen Fachhochschul- oder Universitätsabschluss erworben haben, zeitlebens ohne Kinder. Dagegen hat das Deutschen Studentenwerk ermittelt, dass sich 80 Prozent der studierenden Frauen und Männer eine Zukunft wünschen, in der eine qualifizierte Berufstätigkeit und Familie einen ebenbürtigen Platz einnehmen.

An Hessens Hochschulen existieren laut einer Umfrage des Wissenschaftsministeriums Mitte 2003 474 Betreuungsplätze für Kinder in 17 Horten und Krabbelstuben. Die meisten Einrichtungen werden von Elterninitiativen getragen, den Kommunen und dem Land gefördert, während die Hochschulen Räume zur Verfügung stellen.

Georg Kronenberg



Copyright © 2005 by Marbuch Verlag GmbH