Die Oberhessische Presse bezeichnete ihn jüngst als "Dinosaurier". Dabei ist Professor Wolfram Schüffel quicklebendig. Der ehemalige Direktor der Klinik für Psychosomatik und Professor für Innere Medizin trat zwar im Mai in den Ruhestand, betreut jedoch nach wie vor Patienten in seiner privaten Praxis. Darüber hinaus leitet er den Austausch zwischen anderen Fachärzten und Psychotherapeuten die sogenannten Supervision und ist gleichzeitig als Informationsempfänger an ihr beteiligt. "Für mich ist das ein unverzichtbarer Prozess der Qualitätskontrolle zwischen Spezialisten", betont Schüffel.
Der 1938 in Sachsen geborene Mediziner habilitierte sich 1975 in Ulm und wurde im darauffolgenden Jahr nach Marburg berufen" wo er die Klinik für Psychosomatik gründete. Zu seinen bedeutendsten Publikationen zählt das Buch "Sprechen mit Kranken", das zahlreiche Ratschläge zur Kommunikation mit Patienten enthält. Außerdem darf Schüffel zweifellos zu den Pionieren der deutschen Trauma-Forschung gezählt werden.
Nach dem schweren Grubenunglück im nordhessischen Borken, bei dem im Juni 1988 51 Menschen ums Leben kamen, war er maßgeblich an der Betreuung von Hinterbliebenen und Rettungskräften beteiligt. Zur damaligen Zeit ein absolutes Novum in Deutschland. "Die Helfer waren zum Teil genauso belastet wie die unmittelbar Betroffenen", so der Mediziner, "und litten unter denselben Symptomen".
In einer Kleinstadt wie Borken mit ihren zirka 5.000 Einwohnern gab es keine Familie, die nicht von den Auswirkungen des Unglücks betroffen war. Der anschließende Trauerprozess und die damit verbundene Verarbeitung des Geschehenen konnten nicht zuletzt durch intensive Einzelgespräche und Gruppenarbeit bewältigt werden. Auch hier spielte Schüffel eine Schlüsselrolle.
Drei Jahre nach dem Unglück wurde zur Ehre der Toten und gegen zunehmende Tendenzen des Vergessens und Verdrängens auf dem ehemaligen Zechengelände eine Gedenkstätte enthüllt, die zu einem beliebten Ort des Erinnerns werden sollte.
Im Laufe seiner Arbeit in Borken wurde Schüffel jedoch zunehmend bewusst, dass zwar zahllose Wege der Krankheitsbekämpfung existieren, dass es jedoch im Gegensatz dazu nur wenige Vorstellungen zur Umsetzung aktiver Gesundheitsziele gibt. Aus dieser Erkenntnis heraus stieß er auf das von den israelischen Ärzten Aaron Antonovsky und Beer Sheva entwickelte Konzept der Salutogenese. "Hierbei steht nicht im Vordergrund, wie es zu Krankheiten kommt. Vielmehr geht es darum, wie Salus, also Gesundheit, entsteht."
In diesem Zusammenhang wirft Schüffel die Frage auf, wie aus Krankenhäusern Gesundenhäuser werden könnten. Dabei setzt er nicht nur auf das medizinische Personal. Es geht ihm vor allem darum, die Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten jedes einzelnen Patienten, mit Krankheit und Behinderung umzugehen, für den Gesundungsprozess nutzbar zu machen. "Leider werden diese aber häufig nur unzureichend herausgearbeitet", gibt er zu bedenken. "Dabei könnten die Ursachen von bis zu 80 Prozent aller Krankheiten durch Patientengespräche ermittelt werden."
Insgesamt war Schüffel fast 30 Jahre lang als Forscher und Hochschullehrer tätig. Der weit über das Bundesgebiet hinaus angesehene Psychosomatiker versteht es, auch dem medizinischen Laien erstaunliche Einblicke in seine Disziplin zu vermitteln: "Mindestens 25 Prozent der Bevölkerung sind von psychosomatischen Leiden betroffen. Davon allein 50 bis 60 Prozent der Krankenhaus-Patienten", betont er. "Und das ist noch sehr vorsichtig geschätzt."
Solche Störungen können als Folge von psychischem oder physischem Stress auftreten und äußern sich beispielsweise in Form von Herzrhythmusstörungen. Diese können wiederum weitere körperliche oder seelische Beschwerden nach sich ziehen. Hier einen Teufelskreis zu verhindern hält der Wissenschaftler für eine der wichtigsten Aufgaben seines Faches.
Dabei kritisiert er das Vorgehen vieler Kollegen, die psychosomatische Störungen häufig nur mit symptomlindernden Medikamenten behandeln, anstatt sich den tiefer liegenden Ursachen zu widmen. So werden hoher Blutdruck oder Herzrasen oft jahrelang mit Betablockern in Zaum gehalten. Dabei könnte in solchen Fällen regelmäßiges Ausdauertraining wahre Wunder wirken. "Aber der Kostendruck im Gesundheitswesen steht einer intensiven und begleitenden Patientenversorgung leider im Wege", bedauert der Mediziner.
Wie eng Körper und Psyche miteinander verwoben sind, wird deutlich, wenn Schüffel von einer Patientin erzählt, die über jahrelange Schmerzen im Oberschenkel- und Hüftbereich klagte. Diese hatten jedoch keine körperlichen Ursachen. Denn nach intensiven Gesprächen stellte sich heraus, dass die Beschwerden kurz nach dem Tod ihres Sohnes auftraten und nur durch den unbewussten Wunsch der Frau, ihn erneut zu gebären, erklärbar waren.
Darum: Nicht immer gleich zur Pille greifen. Oft lohnt es sich, die Ursachen für Krankheiten in den eigenen Lebensverhältnissen zu suchen und diese auch mal zu überdenken.
Interview: Savo Ivanic
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