Express Online: Thema der Woche | 1. September 2005

Das Spinnennetz

Info
Die Diskussion: Albrecht Müller mit Georg Fülberth am Freitag, 2.9., 20.00 Uhr im KFZ
Das Buch: Albrecht Müller, "Die Reformlüge", München 2004
Die Homepage: Nachdenkseiten.de
Hermann Ploppa
Bestseller-Autor Albrecht Müller kommt nach Marburg. In seinem Buch "Die Reformlüge" warnt der Ökonom vor Reformwahn und dem Drang, Deutschland permanent schlecht zu reden.

Er meldete sich zu Wort, als Schröder die SPD überredet hatte, sein Reformpaket mit Agenda 2010 und Hartz IV in Empfang zu nehmen. Als Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien wie durch ein Pfingstwunder von der messianischen Idee übermannt wurden, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, warf SPD-Mitglied Albrecht Müller sein Buch "Die Reformlüge" in die Debatte.

Müller war Organisator des erfolgreichen Willy-Brandt-Wahlkampfs 1972. Treu diente Müller sowohl Brandt als auch Helmut Schmidt als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Der Ökonom aus Heidelberg kennt die Mechanismen der Macht aus nächster Nähe.

Und es leuchtet Müller absolut nicht ein, warum wir den Sozialstaat auf Biegen und Brechen in die Wüste schicken sollen. Sein Buch sowie seine Homepage "NachDenkSeiten" sind Pflichtlektüre bei Neoliberalismus-Skeptikern.

Mit Albrecht Müller, der im Marburger KFZ mit Georg Fülberth diskutieren wird, sprach Express-Autor Hermann Ploppa.

Express: Worin besteht die "Reformlüge"?
Müller: Hauptlüge ist, wir hätten einen Reformstau, und wenn wir den auflösen, dann ginge es wirtschaftlich aufwärts. Wir haben keinen Reformstau. Es sind unendlich viele Steuern gesenkt und reformiert worden bzw. auch abgeschafft worden – die Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer. Der Spitzensteuersatz ist abgesenkt worden. Die Gewinne beim Verkauf von Unternehmen sind steuerfrei gestellt worden. Eine Einladung an die "Heuschrecken". Und alles dies hätte nach neoliberaler Auffassung dazu führen müssen, dass es brummt in unserer Wirtschaft. Nichts dergleichen ist geschehen. Ob Greencard oder Hartz-Gesetze: es ist von Kohl bis Schröder permanent reformiert worden.
Es ist eine Lüge, dass es aufwärts geht, wenn man die Lohnnebenkosten senkt. Schon die Umdeutung des Wortes "Reform" ist eine Lüge. Reformen gab es früher zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung und zugunsten der Schwächeren.
Heute sind Reformen Dinge, die den Menschen wehtun. Das sehen wir jetzt gerade in der neuesten Ausgabe der englischen Zeitschrift "Economist". Da werden die Reformen gelobt, weil sie dazu geführt haben, die Löhne zu senken und den Menschen Angst machen auf dem Arbeitsmarkt und sie zwingen, endlich was zu tun etc.

Express: Vertreter aller Parteien predigen uns immer wieder, die gesetzlichen Kranken- und Rentenkassen seien aufgrund der demographischen Veränderungen und der gestiegenen Kosten nicht mehr lange finanzierbar. Was steckt da hinter?
Müller: Das ist auch wieder so eine Lüge. Mathematiker wie Bosbach haben nachgewiesen, dass auch bei veränderter Altersstruktur in der Zukunft die Belastungen für die Rentenkassen nicht so dramatisch ansteigen, als dass man das bestehende System umkrempeln müsste. Wenn man noch die zu erwartende Produktivitätssteigerung in Rechnung stellt, ist das Problem locker zu bewältigen. Dass die Rentenkassen in einer schwierigen Lage sind, liegt daran, dass bei der deutschen Vereinigung dort unglaubliche Lasten raufgedonnert worden sind. Arbeitslosigkeit und Minijobs senken zudem die Einnahmen der Kassen. Durch Minijobs sind alleine 800.000 Beitragszahler entfallen. Hartz I-IV sollten zur Stabilisierung beitragen. Stattdessen ist Destabilisierung die Folge.
Eine totale Lüge ist auch, die private Altersvorsorge sei besser und löse das demographische Problem besser als die gesetzliche Vorsorge. Die das behaupten, sind ökonomische Laienspieler. Sie können weggehen von der gesetzlichen Vorsorge mit der Umlage hin zur privaten Vorsorge mit Ansparen: an dem Verhältnis von Arbeitenden zu Alten und Kindern wird sich nichts ändern. Das ist durch das "Mackenroth-Theorem" hinlänglich bewiesen worden.

Express: Wer sind die Leute, die hier so heftig "Reformen" einfordern?
Müller: Das ist ein ganzes Netzwerk. Mitten drin sitzt eine dicke Spinne. Das ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Ein eigenartiges Gebilde, gegründet von Arbeitgebern. Dort sind dann Leute tätig wie Meinhard Miegel, der von der Deutschen Bank als Lobbyist finanziert wird ...

Express: Oder Herr Raffelhüschen. Im Mittagsmagazin des Deutschlandfunks hört man immer wieder Herrn Donges als "Wirtschaftsexperten" ...
Müller: Es ist interessant, wie die sich schon in die öffentlich-rechtlichen Sender vorgearbeitet haben. Die treten als "Wissenschaftler" auf und sind tatsächlich reine Interessenvertreter der Arbeitgeber. Das ist ein Netzwerk. Die Bertelsmann-Stiftung ist das eigentliche Zentrum.

Express: Die CDU-Kanzlerkandidatin Merkel präsentiert in ihrem Schattenkabinett den radikalen Steuerreformer Paul Kirchhof. Dieser möchte, dass die Steuereinnahmen in Deutschland reduziert werden sollen auf den rein fiskalischen Bereich. Die Lenkungs- und Umverteilungsfunktion der Steuern möchte Herr Kirchhof abschaffen. Was halten Sie von diesen Auffassungen?
Müller: Es war und es ist immer noch unter kompetenten Wirtschaftswissenschaftlern Konsens, dass für eine erfolgreiche Ökonomie die Steuern unbedingt eine Lenkungsfunktion haben müssen. Umweltschutz-Funktionen wie die Ökosteuer sollen bei Herrn Kirchhof wegfallen. Herr Kirchhof widerspricht sich ja selbst vehement. Denn er fordert eine steuerliche Privilegierung kinderreicher Familien. Was ist denn das anderes als eine Lenkungsfunktion im Steuerbereich?

Express: Im internationalen Vergleich ist Kirchhof noch gemäßigt. Die "Americans for Tax Reform" in den USA fordern, dass der Staat nur eine Umsatzsteuer erhebt, sonst gar nichts ...
Müller: Dahinter stecken Interessen der Wirtschaft, staatliche Bereiche wie Wasserversorgung oder Sozialversicherung zu privatisieren. Was bringt das dem Bürger? An die Stelle des Staatsmonopols sind private Monopole getreten. Und die haben zudem meistens höhere Verwaltungskosten als zuvor der Staat als Betreiber.
Auch die Kosten für die Steuerzahler werden nicht geringer. Beispiel Privatuni Witten-Herdecke: die hält jetzt beim Staat die Hand auf, weil sie sich von alleine nicht trägt.

Hermann Ploppa



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