Express Online: Thema der Woche | 22. September 2005

"Ich habe schallend gelacht"

Beim Parteien- und Bürgertreff am Wahlabend in der KFZ-Zulassungsstelle gab's ungläubiges Staunen, strahlende Mienen trotz hoher Verluste und einen zufriedenen Mathematiklehrer.

Sonntagabend, kurz nach 18 Uhr. Die erste Prognose ist gerade über den Bildschirm geflimmert und die ersten Gäste im Schalterraum der Gießener KFZ-Zulassungsstelle, wo der Landkreis zur allgemeinen Wahlbeobachtung eingeladen hat, haben bereits die Schnauze voll. Ein paar junge, schick im Anzug gekleidete CDU-Anhänger machen auf dem Absatz kehrt und verlassen mit ernster Miene den Saal. "Die gehen schon wieder", feixt ein grinsender Student und organisiert mit seinen Begleitern bester Dinge das erste Bier, sichtlich froh, dass Schwarz-Gelb die Mehrheit so unerwartet deutlich verfehlt hat.

Die kleine Schar der SPD-Anhänger hat sich derweil um den Fernseher auf dem Schalter der Zulassungsstelle gruppiert und verfolgt gebannt und weit gehend wortlos die TV-Berichte. Nur langsam lost sich das Staunen ob des unerwarteten Wahlausgangs – Erleichterung und fast schon Begeisterung macht sich bei einzelnen breit. "Das ist ein sensationelles Wahlergebnis", freut sich SPD-Landtagsabgeordneter Thorsten Schäfer-Gümbel. Nach den schweren Wahlniederlagen und miserablen Prognosen noch vor wenigen Wochen habe das Ergebnis "der SPD den Stolz zurückgegeben". "Ich habe schallend gelacht, als ich die erste Prognose gehört habe", meint der gerade eingetroffene Gießener SPD-Chef Gerhard Merz ein und schlägt seinem Genossen auf die Schulter. Obwohl Rot-Grün deutlich abgewählt wurde, freut sich Merz, "bei SPD-Verlusten hatte ich bisher noch nie so eine blendende Laune".

Vor der Großleinwand, auf der die lokalen Ergebnisse eingeblendet werden, hadert die CDU derweil mit ihrem Schicksal – unbewegliche Minen beim christdemokratischen Stadtchef Klaus Peter Möller. Der erst spät erschienene Bundestagsabgeordnete Helge Braun, bei der Direktwahl seinem SPD-Kontrahenten Rüdiger Veit deutlich unterlegen, vertagt tiefere Analysen im Radiointerview auf die nächsten Tage: "Wir müssen mal sehen." Und CDU-Kreisgeschäftsführer Johann Gottfried Hecker ereifert sich über den vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Kanzler. "Das kannst du dir überhaupt nicht anhören. Der Kanzler sagt, da sei keiner weit und breit, der das Amt weitermachen kann – außer ihm. Da lacht ja selbst die SPD drüber", wettert Hecker.

Mathematiklehrer Martin Hollick steht unterdessen mit zufriedener Miene zwischen den Parteifronten – einfach nur, weil sein fächerübergreifendes Unterrichtsprojekt prima läuft. 17 Mathe-Leistungsschüler tragen in der KFZ-Zulassungsstelle am Wahlabend unter Hollicks Leitung lokale Ergebnisse zusammen. Ihr Ziel: eine möglichst genaue Hochrechnung für Gießen zu erstellen. Schon kurz vor 20 Uhr ist das Zwischenergebnis der Friedrich-Feld-Schüler erstaunlich exakt. "Es macht Spaß zu sehen, wie genau die Prognose ist", meint Oberstufenschüler Florian Gerlach und prognostiziert für den Bund gleich noch eine große Koalition.

Die Berechnungen der Schüler zeigen denn auch früh, dass die Gießener CDU gut acht Monate vor der Kommunalwahl im März 2006 einen schwarzen Tag erwischt hat. Bei den Zweitstimmen erreichen die Christdemokraten in der Stadt Gießen nur 28,8 Prozent, 4,6 Prozent weniger als 2002. Die SPD hat freilich auch einen deutlichen Stimmenverlust in Gießen zu beklagen. Mit 34,7 Prozentpunkten und einem Minus von "nur" 3,1 Prozent der Stimmen gegenüber 2002 behaupten die Sozis allerdings klar die Position als stärkste politische Kraft in der Stadt.

Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 22. September 2005

"S-Gewirscht geht weiter"

Freude bei Linkspartei und SPD, Enttäuschung bei FDP und Christdemokraten – Chronologie des Wahlabends in Marburg

17.45 Uhr. Bis jetzt sind erst 30 Anhängerinnen und Anhänger der CDU zur Wahlparty der Christdemokraten im Stadthallenrestaurant eingetroffen. Doch es werden langsam mehr. überwiegend jüngere Christdemokraten sitzen an den Tischen des Restaurants, aber auch einige ältere. In einer Ecke am Eingang des gedämpft beleuchteten Saales steht ein Fernseher, auf dem die Wahlkampfberichterstattung des ZDF läuft. Noch ist sie stumm leise eingeschaltet und man unterhält sich. Ein jüngerer Vertreter der CDU zückt eine Zigarre. "Kanzlerzigarre", witzelt ein Freund von ihm, der nachfragt, ob er diese mitgebracht habe, um sie "zu verbrennen". Kurz vor 18 Uhr verstummen dann die Gespräche: Die erste Hochrechnung. Ein Raunen geht durch den Saal als für Sozialdemokraten 33 und CDU 37 Prozent vorausgesagt werden. "Das gibt nix", kommentiert ein älterer CDU'ler und ein anderer fügt hinzu: "S-Gewirscht geht weiter". Das gute Ergebnis der FDP, der zu diesem Zeitpunkt 10,5 Prozent vorhergesagt werden, verleitet einige Christdemokraten zu Spekulationen über eine mögliche Koalition der Liberalen mit Rot-Grün. Andere halten eine Große Koalition für wahrscheinlicher. Roland Koch sagt im Fernsehen, sowohl SPD als auch CDU hätten ihr Wahlziel verfehlt.

18.30 Uhr. Auch die Gesichter der SPD-Anhänger im Hinterraum des "Unix" am Rudophsplatz sind angespannt. Einige verfolgen die Wahlkampfberichterstattung auf der Großleinwand am hinteren Ende des Raumes von den mit SPD-Fähnchen dekorierten Stehtischen aus, andere haben es sich auf roten Sesseln und Sofas bequem gemacht. "Man weiß gar nicht, ob man sich freuen oder traurig sein soll," sagt einer der anwesenden SPD-Anhänger. Aber ein anderer meint es "hätte schlimmer kommen können". Sören Bartol, SPD-Direktkandidat für den Wahlkreis, läuft nervös auf und ab, denn die Ergebnisse des Kreises treffen erst nach und nach ein, das Endergebnis ist noch immer unklar.

19.30 Uhr. Im Büro der Marburger PSD in Weidenhausen gibt's Erbsensuppe mit Würstchen, dazu Sekt. Die Stimmung ist gelöst, man freut sich, da das Ergebnis der Linken besser ist als das der Grünen. Außerdem führt der inzwischen im Fernsehen ausgebrochene Streit zwischen Merkel und Schröder darüber, wer den Führungsanspruch habe, zu allgemeiner Erheiterung. An der Tür des PDS-Büros hängen die Prognosen der Linken für den eigenen Wahlkreis: Zwischen 4,8 und 9 Prozent.

21 Uhr. Frank Gotthard trifft im inzwischen mit rund 70 Besuchern gefüllten Saal des Stadthallenrestaurants ein. Mit rhythmischem Klatschen und Standing Ovations wird der CDU-Direktkandidat des Wahlkreises empfangen. "Das Ergebnis ist nicht so wie gewünscht," gibt Gotthard zu, der "schockiert" ist über die Ereignisse in Berlin. "Es ist ein bewegender Abend. Auch in Marburg ist noch sehr offen, was passiert," so der CDU-Direktkandidat. Einzelne CDU-Mitglieder sind "ratlos" darüber, wie die künftige Regierung aussehen soll.

21.15 Uhr. Die Wahlparty der Grünen im TTZ scheint schon fast vorbei zu sein. Nur noch rund 15 Anhänger der Partei sind um kurz nach neun übrig geblieben, die meisten davon stehen im Vorraum des TTZ. Im hinteren Saal, wo bei dröhnender Lautstärke auf Großleinwand die Wahlkampfberichterstattung läuft, sitzen gerade noch vier Anhänger der Ökopartei. Franz Kahle, Bürgermeister in Marburg, dreht den Ton leiser und meint, vorher seien noch mehr Leute da gewesen, die meisten seien aber wohl schon gegangen. Die Stimmung ist weder gut noch schlecht. Aber die Sonnenblumen auf den Stehtischen im Foyer wirken bereits leicht verwelkt. Einer der Grünen-Anhänger munkelt, das schlechte lokale Ergebnis werde wohl Folgen für den Kreisvorstand haben.

21.30 Uhr. Bei der SPD hat sich die Stimmung inzwischen entspannt. Auf Bundesebene scheint es beinahe einen Patt zu geben. Die neuesten Prognosen verleiten die Anwesenden sogar zu "Schröder bleibt Kanzler"-Rufen. Auch das Direktmandat im Wahlkreis scheint die SPD mit 48 Prozent wieder errungen zu haben. Als der Hessische Rundfunk darüber berichtet, gibt es ohrenbetäubenden Applaus und "Sören, Sören"-Rufe von den SPD-Anhänger/innen. Der Direktkandidat der SPD, Sören Bartol, wirkt nun ebenfalls deutlich entspannter. Er bedankt sich für das Engagement seines Wahlkampfteams. "Das ist ein Hammerergebnis", freut sich ein jüngerer SPD-Anhänger. Und ein anderer kommentiert "wenn das kein spannender Abend war". Spannend wird es wohl auch in den kommenden Wochen noch bleiben – bei den Versuchen eine Regierung zu bilden.

Petra Schmittner



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