Express Online: Thema der Woche | 29. September 2005

Auf der Spur der Kriegsverbrecher

Das Marburger Forschungszentrum für Kriegsverbrecherprozesse dokumentiert die Prozesse um Judenverfolgung, Völkermord und die Tötung von Kriegsgefangenen seit dem Zweiten Weltkrieg.

Für die Alliierten war es ein Fall von Lynchjustiz: 1944 attackierten Rüsselsheimer Bürger acht amerikanische Kriegsgefangene, die auf dem Weg in ein Kriegsgefangenenlager im Taunus waren, mit Fäusten, Knüppeln und Hämmern. Sechs kamen um, zwei konnten fliehen. Elf Rüsselsheimer mussten sich vor einem US-amerikanischen Gericht in Darmstadt für die Verbrechen verantworten. Das Gericht verhängte sieben Todesstrafen und drei Haftstrafen. Ein Angeklagter wurde freigesprochen.

Bei dem Verfahren handelt es sich um einen der ersten Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland. Nachzulesen ist er jetzt im Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse in Marburg, in dem seit einem Jahr Prozessakten aus der ganzen Welt zusammengetragen werden. Gut aufgearbeitet wurden bislang nämlich fast nur die Kriegsverbrecherprozesse, die vor dem US-amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg sowie vor dem Internationalen Militärtribunal in Tokio geführt wurden. Nur zwei Prozent aller Verfahren sind schon veröffentlicht. Die anderen Prozessunterlagen finden sich weit verstreut in den Archiven der Welt. Aber angesichts der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Ruanda und Ex-Jugoslawien habe es ein "unglaubliches, internationales Interesse an diesen verschollenen Dokumenten" gegeben, sagt der Marburger Projektleiter Wolfgang Form.

Nach einer Pilotstudie des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte ist die Marburger Forschungseinrichtung, die bereits große Erfahrung mit Akten der NS-Justiz hat, nun zur zentralen Einrichtung für das systematische Aufspüren und die wissenschaftliche Auswertung der Prozesse geworden. 400 Mikrofilme – das entspricht 300.000 Blatt Papier aus den USA und Großbritannien – hatten die Frankfurter Kollegen bereits zusammengetragen. Inzwischen wurden eine halbe Million Seiten digital erfasst. Das sind 3200 Prozesse gegen fast 6800 Angeklagte – etwa 20 Prozent des zu erwartenden Materials.

Freilich hat die mühsame Suche nach den angeklagten und verurteilten Kriegsverbrechern der Welt bislang wenig mit dem großen Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, zu tun, der zur Zeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geführt wird. Wenn alle Verfahren erfasst sind – was voraussichtlich noch acht bis zehn Jahre dauern wird -, können die Marburger jedoch die historische Grundlage für das UN-Kriegsverbrechertribunal liefern.

Wir wollen das historische Standbein für die aktuellen Prozesse sein", sagt Projektleiter Form. Schließlich greifen Richter, Ankläger und Verteidiger schon heute immer wieder auf die Unterlagen aus Nürnberg und Tokio zurück. In Zukunft sollen sie eine breitere Grundlage haben. Gesammelt werden aber nicht nur historische Kriegsverbrecherprozesse. Auch die Verfahren der Internationalen Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda werden einbezogen.

Bereits vollständig erfasst wurden die Kriegsverbrecherprozesse, die von den Australiern geführt wurden – 296 Fälle. Zudem gibt es Akten aus Belgien, England, den USA, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Polen. Bislang nicht zugänglich sind die sowjetischen Fälle. Hier wurde 32.000 deutschen Kriegsgefangenen ein "Kriegsverbrecherprozess" gemacht. Bei etwa 60 Prozent der Fälle handelte es sich jedoch um Vorkommnisse während der Kriegsgefangenschaft.

Auch die Unterlagen über die 489 Verfahren, welche die US-Amerikaner in der Zeit von 1945 bis 1948 gegen 1860 Angeklagte führten, finden sich im Dokumentationszentrum. Mehr als die Hälfte der Angeklagten hatten sich wegen Verbrechen in Konzentrationslagern und deren Außenlagern zu verantworten. 600 Menschen standen wegen der Tötung von etwa 1200 US-Soldaten vor Gericht. Dazu kamen "spezielle Fälle". So wurden sieben Ärzte und Pfleger aus der Nervenheilanstalt im mittelhessischen Hadamar angeklagt, die im Rahmen der NS-Euthanasie Zwangsarbeiter getötet hatten. Vorgeworfen wurde ihnen indes "nur" die Tötung der 400 russischen und polnischen Opfer – die deutschen Kinder, die in Hadamar vergast wurden, fielen damals nicht unter die Kriegsverbrecherfälle. Das Gericht verhängte drei Todesstrafen, drei Haftstrafen und einmal lebenslänglich.

Freilich hat die Forschungsstelle noch nicht mit der inhaltlichen Auswertung der Fälle begonnen, die einen Zugang nach Urteilen, Tatorten, Themen, Richtern, Tätern und Opfergruppen ermöglichen soll. Klar ist aber bereits jetzt, so Form: "Je später jemand verurteilt wurde, desto größere Chancen hatte er, am Leben zu bleiben."

Gesa Coordes



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