Express Online: Thema der Woche | 20. Oktober 2005

Schonung des Publikums

Ekkehard Dennewitz inszeniert "König Lear" zum Spielzeitauftakt des Landestheaters

Es ist eine dunkle, ausweglose Tragödie, die Shakespeare um die alte englische Sage des König Lear webt. So ausweglos, dass der "Lear" zu Lebzeiten des Autors zu seinen am wenigsten populären Dramen zählte. Publikumsschonend spielte man stattdessen bis ins 19. Jahrhundert hinein eine per Happyend entschärfte Bearbeitung von Nahum Tate. Der gute Ausgang wird aber dem Verlauf der Tragödie, die Lear selbst anstößt, nicht gerecht. Lear, mehr alter und müder Mann als weiser König, hat beschlossen, die Last des Regierens mitsamt allem Landbesitz abzuschütteln und in Ruhe "zum Grab entbürdet zu wanken". Die Bürde weitertragen sollen seine drei Töchter. Als zwei der Töchter, Goneril und Regan, ihm ganz nach Wunsch Liebe vorheucheln, während sein Liebling Cordelia sich der Heuchelei verweigert, indem sie "liebt und schweigt", verstößt der brüskierte alte Mann die Gute und gibt sich ohne jede Rückversicherung in die Hände der Bösen. Nach vielen Ränken und einer Schlacht wird Cordelia ermordet, Lear stirbt, und – immerhin – auch die Bösen finden ihr unrühmliches Ende, aber die Zukunft der Überlebenden bleibt letztlich im Finstern.

Die beiden "alten Männer" des Landestheaters, Ekkehard Dennewitz (Regie) und Peter Radestock (Titelrolle) machten sich mit der "Lear"-Inszenierung an ein schon länger gehegtes Vorhaben: "Wir haben uns vor Jahren gesagt, wenn wir 60 sind, machen wir den Lear", so Dennewitz in der Premiereneinführung. In seiner Interpretation stellt Dennewitz zusammen mit Kostüm- und Bühnenbildner Frank Chamier den Aspekt der Groteske in den Mittelpunkt. In der Groteske schlägt die Form ins Formlose, das Maßvolle ins Sinnlose, das Lächerliche ins Entsetzliche um und lässt so eine zerbrechende Welt sichtbar werden. Dafür steht zum Beispiel die gelungene Mutation der beiden bösen Schwestern (Joanna-Maria Praml und Juliane Beier) von "ganz normalen" weiblichen Hexen über machtbesessene Flittchen bis hin zu barbarischen Monstern. Dafür steht auch der schauspielerisch an diesem Abend hervorstechende Gabriel Spagna. Als "junger Macher" und übler Intrigant Edmund, der die "alten Machos" ablösen will, würzt er die nötige coole Abgebrühtheit mit einem Hauch Selbstironie und fast kindlicher Freude an seinem bösen Spiel.

Insgesamt aber erreicht die Inszenierung trotz ihres Potentials nicht das erklärte Ziel. Wäre die Interpretation der Groteske konsequent durchgeführt, müsste dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleiben, müsste hinter der Heiterkeit die Beklemmung lauern.

Warum schielt die Inszenierung stattdessen auf vordergründige Lacher, wenn z.B. ein Schauspieler plötzlich und unmotiviert "sächselt"? Warum werden bekannte Klischees wie das des devoten Dieners oder der Schurken in Nadelstreifen nur überspitzt, aber nicht wirklich grotesk umgeformt? Warum werden einmal mehr "Action" und Effekt mit Spannung verwechselt? Zur Schonung des Publikums? Und: Ist der Lear mit einem Vollblutkomödianten wie Peter Radestock gut besetzt? Hinter seinem Lear lauert kaum Beklemmung, eher routinierte Schauspieltechnik. Sein Wahn ist eben nicht grotesk, auch nicht wirklich berührend, sondern altbewährt komisch.

Ja, es gibt viel zu sehen an diesem Theaterabend, auch im Einzelnen Etliches zu loben, und der Applaus des Premierenpublikums war sehr freundlich. Aber es fehlt leider die Konsequenz, es fehlt ein Gesamtbild oder Grundgefühl, das sich aus all dem zusammenfügen sollte: Es fehlt letztlich die Antwort auf die Frage, welche Geschichte uns erzählt werden sollte.

Ulrike Rohde


Express Online: Thema der Woche | 20. Oktober 2005

Europa als Überlebenstraining

Das Diskurs-Festival der Angewandten Theaterwissenschaften widmet sich in diesem Jahr dem Bild eines Kontinents: "Surviving Europe" lautet das Motto. Welche Vorstellungen haben die eingeladenen Künstler, aber auch welche hat vielleicht das Publikum von Europa? Darum geht es vom 18. bis 23. Oktober zwischen Festival-Zentrum und Theater im Löbershof

Nachdem im letzten Jahr beim Diskurs-Festival thematisch eine allgemeine Hoffnung die Oberhand hatte, haben sich die Gießener Theaterwissenschaftler in diesem Jahr einer weitaus konkreteren, durchaus politischen Frage gewidmet: Der Frage des Überlebens von und in Europa. Was immer sich von diesem Ausgangspunkt aus gestalten lässt, die Hinterfragung steht im Vordergrund: "Das Motto Surviving Europe ist in erster Linie eine inhaltliche Setzung. Wir wollen damit die eigene europäische Ausrichtung des Festivals hinterfragen. Uns interessiert dabei, welches Europa wir als Organisatoren mit einer Auswahl von Einladungen genau fördern und welches Europa dabei ins Hintertreffen gerät", sagt Theaterwissenschaftler Boris Nikitin während der umfangreichen Vorbereitungen.

Doch es wird wieder einmal abzuwarten bleiben, ob dieser ins Allgemeine und öffentliche Interesse greifende Ansatz in den Zuschauerzahlen ins Volle oder Leere greifen wird. Schon im letzten "Jahr der Hoffnung" war thematisch die Chance da, aber ans ehemalige Werkgelände von IBP Bänninger verirrte sich nur wenig tatsächliches Publikum. Ein immer noch fortwährendes Manko, gerade auch finanziell. Obwohl die Theaterwissenschaften noch in frühen Neunzigern mit einem sechsstelligen Etat und Partys, die das Audimax beinahe zum Bersten brachten, veranstalten konnten. "Tatsächlich ist es nach wie vor schwierig, Gelder für das Festival zu erhalten. Das hat vor allem mit finanziellen Engpässen bei Region, Land und Bund zu tun. Werbungen für unser Programmheft zu finden war beinahe unmöglich", beschreibt Nikitin dies missliche Lage. Ein Grund mehr, auf ein reges Publikum zu hoffen, das ganz unbelastet und offen kommt und schaut.

Inwieweit im diesjährigen Fall die Idee des geeinten Europa und die Frage des Überlebens in unseren Breitengraden kritisch bearbeitet werden, darf man mit Spannung erwarten. Wie die Mittel der Kunst und die Künstler gerade im Gespräch in Interaktion treten ebenfalls.

Titel wie "Spunk 2005" von der Niederländerin Nora Heilmann oder "Just in case" der Gruppe Low Profile lassen in jedem Fall wieder hochkarätige Performance-Kunst erwarten. Zudem werden ein Symposium zum Thema "Kontext Europa" sowie viele mitreißende Partys wieder das Festival abrunden.

Den Startschuss gaben bereits ab 18.00 Uhr einige Installationen im Festivalzentrum und um 21 Uhr "Give me body then" des Libanesen Ali Cherri im Theater im Löbershof.

Mit einigen "Artists in Residence"betont das Festival auch in diesem Jahr wieder die Absicht, Kunst als Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken. Dort liegt somit die Parallele zu allen "Diskurs"-Jahrgängen begraben, die ganz augenscheinlich im studientechnischen Ansatz des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaften zu suchen ist. Das Festivalzentrum liegt in diesem Jahr auf dem Gelände der Firma Gail im Erdkauter Weg 50.Ausführliche Ausschilderungen ab der Kreuzung Rathenaustraße / Schiffenberger Weg werden jedem Besucher den Weg weisen. Nur hingehen muss man schon von alleine.

Rüdiger Oberschür



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