Express Online: Editorial | 4. Mai 2006

Nachsitzen

Arbeitseifer zahlt sich nicht immer aus. Da nimmt ein fleißiger Lehrer die Abitur-Arbeiten seines Biologie-Leistungskurses zum Korrigieren in den Spanien-Urlaub mit. Auf der Rückfahrt wird ihm dann in einem unbeobachteten Moment das Auto aufgebrochen und sämtliche Taschen gestohlen. Natürlich auch die mit den Abi-Klausuren. So geschehen an der Gießener Liebigschule, und vor allem für die Leistungskursschüler mit weit reichenden Konsequenzen: Weil die schriftlichen Leistungsnachweise erstmal weg sind und es auch keine Kopien davon gibt, wurden sie nach den Osterferien darüber informiert, dass die Biologie-Klausur noch einmal geschrieben werden muss.

Gerade mal zehn Tage Vorbereitungszeit verblieben bis zum Nachschreibetermin. Zeit, die eigentlich auch benutzt werden sollte, um für die demnächst anstehenden mündlichen Prüfungen zu büffeln, wie eine verärgerte Mutter klagt.

Dass die Klausuren auch zu Hause in Deutschland bei einem Einbruch hätten geklaut werden können, ist ein schwacher Trost. Da bleibt nur die gerne im Lateinunterricht verbreitete Erkenntnis der alten Römer, "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir".

Leider ist aber auch das falsch. Denn im Original heißt es, "Non vitae, sed scholae discimus" – "Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir". Das Zitat des römischen Philosophen Seneca, in dem er das damalige Bildungssystem kritisiert, wurde erst Jahrhunderte später – vielleicht ja von einem Lehrer – verdreht.

Georg Kronenberg



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