Express Online: Thema der Woche | 19. Januar 2006

Integration statt Strafe

Professor Dieter Rössner
hat eine ordentliche Professur für Strafrecht und Kriminologie an der Philipps-Universität Marburg inne. Praktische Erfahrungen samelte Rössner von 1976 bis 1983 als Richter und Staatsanwalt sowie im Justizministerium Baden-Württemberg. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Konzeption des Täter-Opfer-Ausgleichs sowie in der Präzisierung des Status' der Opfer. Zum Täter-Opfer-Ausgleich hat er dem Bundesjustizministerium 1998 ein Gutachten vorgelegt. Zudem ist Rössner Vorsitzender der Neuen Kriminologischen Gesellschaft und Mitglied im Arbeitskreis Alternativentwurf deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer. Schließlich gehört Rössner noch dem Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecher-
prozesse der Universität Marburg an, das seit 2003 parallel zum War Crimes Studies Center der Universität Berkeley/USA alle verfügbaren Dokumente zu bislang durchgeführten internationalen Kriegsverbrecher-
prozessen sammelt und verfügbar macht.
Hermann Ploppa
Britta Bannenberg und der Marburger Jurist Dieter Rössner bieten eine bündige Einführung in die Kriminologie

Nimmt man die Welt so, wie sie uns die Massenmedien jeden Tag nahebringen, so sind Raub, Vergewaltigung, Mord und Totschlag selbstverständliche Bestandteile unseres Alltagslebens. Konflikte löst man, indem der Kontrahent erschossen wird.

Durch die Brille der Wissenschaft des gesetzeswidrigen Verhaltens, der Kriminologie, sehen wir indes eine völlig andere Welt. Im Jahr 2004 wurden inmitten von über 80 Millionen Bundesbürgern 2480 Tötungsdelikte begangen. Der Mörder war in den meisten Fällen kein dunkler Mann mit fremdländischem Schnurrbart, sondern der eigene Ehegatte. "Subjektiv empfinden die Deutschen Kriminalität als bedrohlicher als sich die Kriminalitätslage tatsächlich darstellt", beschreiben Britta Bannenberg und Dieter Rössner diese Wahrnehmungsverzerrung. Bannenberg ist Professorin für Kriminologie in Bielefeld, Rössner lehrt an der Marburger Universität. Sie haben ein ebenso kurzes wie bündiges Büchlein zur Einführung in die Kriminologie veröffentlicht, das sowohl Fachleuten wie interessierten Laien einen raschen und qualifizierten Einstieg in die Materie bieten soll.

Selbstverständlich transportieren Verfasser von Einführungsbüchern auch immer ein Stück ihrer eigenen wissenschaftlichen Botschaft mit. Das bekommt diesem Buch sehr gut. Die Autoren tendieren zu einem Umgang mit Kriminalität, der das soziale Umfeld berücksichtigt. Der Delinquent soll nicht stigmatisiert werden. Angesichts fließender Übergänge von Gesetzestreue hinüber in das Reich der eklatanten Normverletzungen und augenzwinkernder Massenvergehen wie z.B. Versicherungsbetrug ist die Verbrechensbekämpfung eine Aufgabe, an der sich die ganze Gesellschaft beteiligen sollte. Nicht durch lächerliche Hilfssheriffs, sondern indem Eltern und Erzieher Konsequenz und Einfühlungsvermögen ausbilden. Die beste Verbrechensbekämpfung besteht in einer Kultur gegenseitigen Vertrauens. Gute Nachbarschaftsbeziehungen machen Einbrechern das Leben schwer. Soziales Kapital ist das Gold der aufgeklärten Kriminologen.

Täter-Opfer-Ausgleich und nuancierte Wiedereingliederung statt drakonischer Strafen oder elektronischer Fußfesseln – dafür plädieren Bannenberg und Rössner. Heilsame Besonnenheit als Gegenpol zum hysterischen Mediengeschrei.

Bitta Bannenberg/Dieter Rössner: Kriminalität in Deutschland. München 2005

Hermann Ploppa


Express Online: Thema der Woche | 19. Januar 2006

Der Agitprop hat verspielt

Thomas Goritzki riskiert mit Jean Genets "Der Balkon" fast einen Theaterskandal

Es rülpst, leckt und lechzt, sabbert, spuckt Blut, frisst Geldscheine und wälzt sich in Fäkalien, soweit die Bühne reicht. Thomas Goritzki hat Jean Genets skandalträchtiges Stück "Der Balkon" am Stadttheater Giessen inszeniert und versucht, daraus linkes Schocktheater werden zu lassen. Das Stück, das vom stadtbekannten Bordell "Der Große Balkon" erzählt, wo nicht (nur) gehurt, sondern ein jeder eine neue, mitunter staatstragende Identität annehmen kann, sei es Richter, General oder Bischof, während draußen ein blutiger Aufstand tobt.

Ein Puff als Staat also, aus dem Goritzki gleich natürlich die Bundesrepublik Deutschland machen muss. Monika Gora hat dem Regisseur, der in der letzten Spielzeit eine noch so glückliche Inszenierung von Dieter Fortes Luther-Stück hingelegt hat, ernsthaft einen Bundesadler in die Bühne gehängt, der am Ende noch als Projektionsfläche für die im Taxi vorm Theater türmenden Staatsmänner dient.

Das Ensemble, allen voran Carolin Weber als Bordell-Königin, gibt sein bestes, auch wenn man den 15 Schauspielern zuweilen das eigene Unverständnis gegenüber Stück und Inszenierung durchaus anmerkt.

Permanentes Plenarsaal-Gestöhne mit Fellatio-Phantasien und dazu tobt der Krieg, das hat manchen Zuschauer schon nach einer halben Stunde aus seinen Sitzen getrieben. Dabei ist das Hauptproblem nicht das Spiel der Obszönitäten, sondern dass Goritzki mit den stückimmanenten Themen von Mensch und Politik, Eros und Libido und dem eigentlich vortrefflich angelegten Diskurs über Bildtheorie und Illusionsbildung nicht umzugehen weiß. Der Abend wirkt dabei so verwahrlost, weil die Regie aus dem Angebot keine Kernaussage trifft, keinen Schwerpunkt in diesem komplexen Drama setzt.

Stattdessen ergänzt Goritzki Genet noch auf Teufel komm raus mit Kritikfloskeln: Politiker werden als Illusionäre per se tituliert und ein am hinteren Bühnenrand spielt ein auf und abwandernder Gitarrist die deutsche Nationalhymne im Hendrix-Sound.

Dazu verfällt der Abend phasenweise völlig überdreht und lose aneinandergereiht dem präkoitalen Unsinn. Mit den Ansätzen eines politischen Theaters à la Augusto Boal oder Erwin Piscator hat das nichts mehr zu tun. Der Agitprop hat hier wirklich verspielt, kommt man doch nicht einmal auf die Idee zu fragen: Eine andere Welt, ja okay, aber welche? Dass das übrig gebliebene Premierenpublikum dennoch lautstark applaudierte, war wohl die größte Überraschung des Abends.

Rüdiger Oberschür



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