Express Online: Thema der Woche | 6. April 2006

Lernen für die Zukunft

Elf Millionen Menschen sind in Ostafrika von Hunger bedroht. Im Juli reisen Schülerinnen der Marburger Richtsberg Gesamtschule zu einem Selbsthilfeprojekt nach Kenia in die Masai Mara, wo eine Krankenstation und eine Schule entstehen sollen.

Seit Monaten hat es in Ostafrika nicht mehr geregnet. Aufgrund der anhaltenden Dürre sind dort elf Millionen Menschen von Hunger bedroht. Weite Landstriche in Kenia, Somalia, Äthiopien und Eritrea sind verödet. Hunger und Dürre verursachen über Landesgrenzen hinweg riesige Ströme von Menschen auf der Flucht vor dem Tod. Diese vertriebenen Menschen vergrößern wiederum anderenorts das Elend knapper Überlebensressourcen. Ein Ende der Krise ist nicht absehbar, selbst wenn nun der lang ersehnte Regen fallen sollte.

Auch der Nutz- und Wildtierbestand ist in den betroffenen Regionen stark gefährdet. Ihre Weidegründe sind verbraucht und Nomaden finden mit ihren Herden kein Wasser mehr. Mindestens sechzig Nilpferde sind alleine in Kenia an den Folgen der Dürre verendet, da sie eine große Menge Wasser oder Schlamm brauchen, um ihren bis zu 3,2 Tonnen schweren Körper zu kühlen. Für den Maasai Nelson Reiyia sind diese Nachrichten katastrophal aber nicht neu. Er hat sich bis zum Hotelmanager hochgearbeitet und lebt in Nairobi, einem der zentralen Knotenpunkte für wichtige Informationen in Afrika. Berechnungen der UNICEF etwa, dass täglich weltweit 4500 Kinder sterben müssen, weil sie verschmutztes Wasser getrunken haben und das weitere vierhundert Millionen Kinder unter Trinkwassermangel und unzureichender Hygiene leiden, machen Nelson Reiyia betroffen.

Wenn er dann auf dem Dach seines Arbeitsplatzes, des Grand Holiday Hotel in Down Town Nairobi steht, dann kann er im Westen zwar nur bis zu den Ngong Bergen sehen. Aber mit seinen Gedanken ist Nelson Reiyia schnell in seiner Heimat, der jenseits der Ngong Berge in den weiten Tiefen des Rift Valley liegende Masai Mara. Die Masai Mara ist eines der beeindruckensten und zugleich fragilsten Wild- und Naturschutzgebiete Afrikas. Die alljährlich im Juli/August stattfindende Migration riesiger Gnu-, Zebra- und Gazellenherden von der Serengeti in Richtung des Mara Flusses, der Lebensader der Masai Mara, kann ohne den erhofften Regen schnell zum Kollaps des empfindlichen Ökosystems führen. Denn auch die Hirten der Maassai treiben ihre Herden auf der Suche nach Wasser und Weidegründen jetzt in das Masai Mara Reservat, das ursprünglich Maassailand war. Eine weitere tödliche Bedrohung für die Wildtiere, deren Immunsystem den von domestizierten Tieren übertragenen Infektionen nicht gewachsen ist.

Der Haupteingang des Masai Mara Nationalparkes liegt in Sekenani, einer Siedlung von fünftausend Massai. Dort lebt auch Nelson Reiyias Familie. So oft er kann, reist Nelson Reiyia nach Sekenani. Wenn Nelson sich mit seinen Geschwistern und deren Kindern in dem aus Lehm, Stöcken, Gräsern und Kuhdung gebauten Rundhaus seiner Mutter trifft, dann kann es passieren, dass er sich den Fragen von fünf unterschiedlichen Generationen stellen muss. "Selbst meine blinde Großmutter ist noch neugierig und will genau wissen, was ich in Nairobi alles erlebe und lerne. Dabei weiß sie schon so viel über das Leben und ich kann ihr nichts mehr vormachen. Sie hat ein untrügliches Gespür für Wahrheit und Lüge und ihr Rat ist allen teuer." sagt Nelson Reiyia und denkt seinen Gedanken weiter. "Wir wissen eigentlich, dass wir unsere Zukunft selber in die Hand nehmen müssen. Niemand wird die Interessen der Maassai in dieser komplizierter und komplexer werdenden Welt vertreten und verteidigen, es sei denn, wir tun es selbst." Vor allem die Maassai, die nahe am Masai Mara und Amboseli National Park leben, werden durch die strengen kenianischen Naturschutzauflagen immer stärker in ihren traditionellen Lebensweisen begrenzt. Ein Konfliktpotential, das in der Vergangenheit immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen um Wasser- und Landrechte führte.

Um diesen Bedrohungen ihrer Identität etwas entgegenzusetzen, hat Nelson Reiyia dem Ältestenrat von Sekanini ein Projekt vorgeschlagen. "Ich habe ihnen gesagt, dass wir in Sekenani selber eine Schule bauen, in der wir, ob alte oder junge Maassai, gemeinsam alles lernen können, was wir zukünftig zum Leben brauchen werden. Und weil das nächste Krankenhaus im hundert Kilometer entfernten Narok liegt, bauen wir auch gleich eine eigene Krankenstation, in der wir die medizinische Basisversorgung unserer Leute sichern und ihnen beibringen, wie sie sich z.B. gegen Aids und andere Krankheiten schützen können. Beide Bausteine können wir finanzieren, wenn wir drittens ein eigenes Safari Camp für die Touristen bauen, die daran interessiert sind, dass es den Maassai gut geht." Das mit seinem Projekt auch neue Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten für die Maassai von Sekenani entstehen werden, ist eine weitere Hoffnung von Nelson Reiyia.

Der Ältestenrat von Sekenani hat ihm zunächst zwanzig Hektar Land gegeben. Damit ist ein Anfang gemacht. Als nächstes wird Reiyia eine NGO registrieren müssen, um alle rechtlichen Grundlagen für seine Vision zu legen. Im Juli diesen Jahres werden acht Schülerinnen der Marburger Richtsberg Gesamtschule nach einem Work Camp im Kiaragana Kinderheim auch in die Masai Mara reisen. Auf dem Weg dorthin werden sie in Sekenani vorbeischauen und Reiyia treffen. Im kommenden Jahr plant der Marburger Verein I SEE e.V. in Sekenani bereits ein vierwöchiges Work Camp, denn die zwanzig Hektar Land müssen zunächst gerodet werden. "Wir wissen, dass wir noch viel lernen müssen und das wir wichtige Lernprozesse nicht ohne fremde Hilfe schaffen werden. Ein guter Wissenstransfer wirkt wie gute Bewässerungssysteme – sichert das Leben. Dafür werden wir hart arbeiten", sagt Reiyia und fügt hinzu, "dass der Versuch, etwas zu verändern sinnvoller ist, als vor den Problemen zu resignieren."

Spendenmöglichkeit: Stichwort. "I SEE Masai Mara" Kontonummer: 18408201 bei der Volksbank Mittelhessen BLZ: 513 900 00

Masai Mara" Photo-Ausstellung präsentiert von Agent 21/Praxis GMBH im relectro-Second-Hand-Kaufhaus vom 7. April – 30. September 2006. Vernissage 7. April 18.30, Im Schwarzenborn 2b (Kaufpark Wehrda)

Thomas Gebauer


Express Online: Thema der Woche | 6. April 2006

Eine andere Streitkultur

Zur Person
Johannes M. Becker (53) lehrt als Privatdozent an der Marburger Philipps-Universität. Der Politikwissenschaftler ist Geschäftsführer des Marburger Zentrums für Friedens- und Konfliktforschung. Der Rheinländer hat zwei Jahre in Paris studiert, über die Sicherheitspolitik Mitterands habilitiert und besitzt ein Haus an der Ardèche. Neben Frankreichforschung sind Konfliktforschung und Wirtschaftspolitik seine Schwerpunkte.
Gesa Coordes
Mit ihren Protesten gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes haben die französischen Studierenden Massendemonstrationen ausgelöst. Bei uns wäre dies nicht möglich, meint der Marburger Politikwissenschaftler und Frankreichexperte Johannes M. Becker.

Express: Zwei Drittel der französischen Hochschulen haben gestreikt. 1,5 Millionen Menschen sind für die Rücknahme des "Erstarbeitsvertrages" auf die Straße gegangen. Ist so etwas bei uns denkbar?
Johannes M. Becker: Ich glaube nicht, leider. Die Franzosen haben eine andere Streitkultur, die auf die Geschichte zurückgeht. In Frankreich gab es vier Revolutionen, die gesiegt haben, in Deutschland nicht eine einzige. Wir hatten zwei republikanische Bewegungen, die Mainzer Republik und die Münchner Räterepublik, die für ein paar Tage überlebt haben. Auch die 68e-Bewegung blieb im Prinzip reduziert auf die junge Intelligenz. In Frankreich hat sie nicht nur die Studentenschaft, sondern auch die Arbeiterschaft erfasst.

Express: Der AStA der Marburger Universität hat sich solidarisch mit den streikenden Studierenden in Frankreich erklärt. Könnte die Protestwelle zumindest auf die deutschen Hochschulen überschwappen?
Becker: Nein. Die französische Hochschullandschaft ist ganz anders. In Frankreich haben wir ein Zweiklassensystem. Wir haben die Elitehochschulen – etwa 30 bis 40. Alle Absolventinnen und Absolventen dieser Hochschulen bekommen Jobs. Und dann gibt es das Gros der Universitäten – 75 bis 80. Von ihnen geht der Streik aus. Die Qualität dieser Hochschulen ist leider sehr viel schlechter als bei uns. Wer aus diesen Universitäten herauskommt, hat überhaupt keine Chance, in den Staatsapparat und in das hohe Beamtentum hineinzukommen. Er hat große Probleme, überhaupt einen Job zu finden. Das ist die Generation der "sans future", die sich von dem neuen Gesetz betroffen fühlt. Dagegen bekommen zum Beispiel die Marburger Politikwissenschaftler überdurchschnittlich schnell Jobs.

Express: Das heißt, dass es den deutschen Studierenden im Vergleich noch gut geht?
Becker: Verglichen mit dieser Zweiklassigkeit geht es ihnen gut. Aber unsere neue Regierung ist ja dabei, dies auch hier einzuführen. Wir haben jetzt ein 100-Millionen-Euro-Programm, das zehn Universitäten zu sogenannten "Elite-Universitäten" machen soll. Was nutzen uns zehn Elite-Hochschulen, wenn wir dann 75 abgestufte und schlechte Universitäten haben, die ausbluten? Die Perspektive ist katastrophal.

Express: Sind die deutschen Studierenden braver als ihre französischen Kommilitonen?
Becker: Im Gegenteil. Dadurch, dass wir relativ liberal mit ihnen umgehen, wären sie tendenziell eher in der Lage, eine solche Bewegung loszubrechen. Die französische Hochschule ist die verlängerte Schulbank mit extrem autoritären Strukturen. Die Studierenden in Frankreich schreiben – das ist nicht übertrieben – in vier Farben mit, wenn der Professor eine Folie in vier Farben auflegt. Nur fehlt die Streitkultur bei uns. Bei uns schämt man sich für seine soziale Lage, weil fast alle Menschen in diesem Land glauben, dass sie individuell für ihre Probleme verantwortlich sind.
Und es gibt die Mär, dass die öffentlichen Kassen leer sind. Als 2005 das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, gab es ein paar Montagsdemonstrationen im "wilden Osten". In Frankreich ist das anders. Da denken die Leute: "Wir sind sechs Millionen Arbeitslose in Frankreich. Hier kann etwas am System nicht stimmen." Die Arbeitslosen machen auch regelmäßig kleine Demonstrationen bei Spitzenkoch Paul Bocuse. Und Bocuse bewirtet sie. Stellen Sie sich das in einem Marburger Restaurant vor – nach fünf Minuten wäre die Polizei da.

Express: Mit welchen Themen bringt man die Studierenden hier auf die Straße?
Becker: Das ist eine gute Frage. Die Protestwelle gegen die Einführung der Studiengebühren ist längst verebbt. Unsere Studierenden in der Soziologie haben jetzt einen Tag lang gestreikt, um die Einführung des N.C. zu verhindern. Dazu bräuchten wir aber mehr Profs und mehr Mitarbeiter. In einem Seminar der Friedens- und Konfliktforschung mit 250 Studierenden zu sitzen, ist unerträglich. Ich weiß nicht, womit man die Studierenden in Deutschland auf die Straße bringt.

Interview: Gesa Coordes



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