Express Online: Thema der Woche | 13. April 2006

Die entgiftete Stadt

850 Tonnen Rückstände
Es war ein "Jahrhundertprojekt": 850 Tonnen hochgiftige chemische Rückstände aus der Produktion von Sprengstoff haben die Sanierer aus der Erde Stadtallendorfs herausgeholt, allein 3000 Kilogramm noch sprengfähiges TNT.
Die Nationalsozialisten hatten in Stadtallendorf (Kreis Marburg-Biedenkopf) zwei der größten Rüstungsstandorte Europas hochgezogen. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Rückstände aus der Produktion von Bomben und Granaten auf dem 420 Hektar großen ehemaligen Gelände der Dynamit AG (DAG) verstreut. Darauf wohnen heute etwa 4000 Menschen, mehr als 8000 kommen täglich zur Arbeit in das Industriegebiet.
Erstmals in Europa wurde eine "bewohnte Rüstungsaltlast" dieser Größenordnung saniert. Insgesamt 100 Wohngrundstücke stuften die Experten als so verseucht ein, dass der Boden rund um die Häuser – mitunter bis in sieben Meter Tiefe – ausgetauscht werden musste.
Noch aufwendiger war die Sanierung der so genannten "Trihalde", in der einst die Schlämme aus der Sprengstoffproduktion abgelagert wurden. Jahrelang hatten die Kinder auf dem Hügel gespielt, über dem dann eine luftdichte Halle errichtet wurde, um die längst begrünte Erde abzutragen. Das giftige Material wurde in gasdichte Container verladen und nach Deutzen bei Leipzig gekarrt, wo es vernichtet wurde.
Weiter überwacht und durch Aktivkohlefilter gereinigt wird auch das Trinkwasser. Schließlich wird fast ganz Mittelhessen von den Stadtallendorfer Brunnen versorgt.
Gesa Coordes
Ende März ist die Sanierung der größten Rüstungsaltlast Hessens in Stadtallendorf abgeschlossen worden. Das Land hat 143,5 Millionen Euro in die Entgiftung des Standorts gesteckt. Ausgerechnet bei der Sanierung des letzten Wohngrundstücks wurden drei Arbeiter verletzt.

Bertram Kuntke ist kein Mann, der sich leicht aufregt. Der ehemalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Stadtallendorfer Stadtparlament hatte auch nur zu den Bewohnern auf dem Gelände der ehemaligen Sprengstoffwerke gehört, die vorsichtshalber ihren Boden austauschen lassen wollten, um unbesorgt Gemüse aus dem eigenen Garten ziehen zu können. Schließlich hatten die Rasterbohrungen vor 16 Jahren ergeben, dass sein Einfamilienhaus auf einem unbelasteten Grundstück errichtet wurde. "Es war alles in Ordnung", sagt der 68-Jährige. Schließlich hatte er sein Einfamilienhaus 1971 in einem "wunderschönen Wald" gebaut, erzählt der gelernte Techniker.

Allerdings hatten die Männer in den weißen Schutzanzügen 1990 nur an zwei Stellen seines Gartens Probebohrungen vorgenommen. Und als Ende 2002 die Bauarbeiter anrückten, um den Boden in einem Meter Tiefe auszutauschen, kam die böse Überraschung. Drei Arbeiter mussten mit Atemschwierigkeiten und Übelkeit in die Klinik eingeliefert werden. Sie waren unerwartet auf Überreste eines ehemaligen Lagers für Vorprodukte aus der Sprengstoffproduktion gestoßen, die noch ausgasten. Ob sie die Atemmasken etwas zu spät aufgesetzt, die Filter nicht oft genug gewechselt oder die Masken nicht richtig funktioniert hatten, ließ sich im Nachhinein nicht mehr klären. Jedenfalls war es der einzige Giftunfall während der 15-jährigen Sanierungszeit. Nach Informationen von Projektleiter Christian Weingran haben die Arbeiter keine dauerhaften Schäden davongetragen.

Für Bertram und Margarete Kuntke war es ein Schock. Noch am gleichen Tag wurde die Stelle mit Beton zugegossen und das Gelände abgesperrt. Feuerwehr und Katastrophenschützer rückten an. Im Nachhinein war der Rentner heilfroh, dass er einst für sein Gartenhaus kein Fundament gegossen hatte. "Wir haben da früher fröhliche Feste gefeiert, ohne zu ahnen, was darunter war." Fast unmittelbar neben dem hochbelasteten Areal hatte er Salat, Möhren, Erdbeeren und Kohlrabi gezogen. Immerhin: Die ärztlichen Untersuchungen ergaben keine Auffälligkeiten bei seiner Familie.

Es war eines der besonders belasteten Grundstücke", bestätigt ProjektleiterWeingran. Und "im kleinen Maßstab" mussten Sicherheitsmaßnahmen wie bei der "Trihalde" – der gefährlichsten Rüstungsaltlast Stadtallendorfs – getroffen werden. Direkt vor den Fenstern der Kuntkes wurde eine zehn Meter hohe, bis auf die Nachbargrundstücke reichende Halle errichtet, die mit mehreren Schleusen unter Unterdruck gehalten wurde, damit keine Gifte hinausgelangen können. Es gab Überwachungskameras und ständige Alarmeinrichtungen, die mit dem Bereitschaftsdienst der Sanierungsgesellschaft HIM verbunden waren. Die Männer, die den verseuchten Boden in gasdichte Container füllten, arbeiteten mit Schutzanzügen und Atemmasken. In dreieinhalb Meter Tiefe stießen sie auf Fels – mehr Erde musste dann nicht mehr abgetragen werden. "Die haben hier auf jedes Quentchen Sicherheit geachtet", lobt Kuntke.

Während seine Enkel die Arbeiten mit großer Spannung verfolgten, ist der 68-Jährige froh, dass die Sanierung nun vorbei ist. Viereinhalb Jahre konnte er den verwüsteten Garten kaum nutzen. Vor allem den riesigen Zedern und der Lebensbaumhecke trauert der Rentner nach. Doch das Land hat gemäß der Sanierungsvereinbarung eine neue Sommerlaube im Garten errichtet. Und die Kuntkes wollen auch wieder Gemüse anbauen. Schließlich gilt das Grundstück wieder als unbelastet.

Gesa Coordes



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