Express Online: Thema der Woche | 29. Juni 2006

"Berlin, Berlin"

Zwei Tore, drei Spielimpressionen: zu Hause, zu Gast bei Nachbarn und in der Fan-Arena. Ganz Deutschland ist im Freudentaumel über den Einzug der Klinsmänner ins Viertelfinale – wir haben das gleich dreimal gefeiert.

Der Rübenstein rockt

Blöde Frage: guckst du? Klar doch, alle gucken! Aber wo? Ein Freund gibt mir den Tipp, mich in der Marburger Oberstadt am Rübenstein einzuklinken. Mittlere Eventgröße, klassisches Chips'n Sixpack-Freilicht-TV mit linkschaotischer WG und diversen ex-chaotischen linkstraditionalistischen Nachbarn samt Kiddies. Klingt gut, klingt nach good-old-Marburg-Fackwork-Idylle. Ist gekooft.

Um halb fünf biege ich um die Rübensteinecke und staune: Eine Leinwand hängt am historischen Gassengemäuer, gegenüber steht ein Beamer. Willkommen im 21. Jahrhundert, Oberstadt! Sonst stimmt noch alles: Holunder, Efeu, Sonne, Fackwork – und die WG-Jungs bei der technischen Feinabstimmung: "Das Bild ist Scheiße. Ist noch zu hell für den Beamer." – "Die Sonne geht gleich weg." – "Um fünf?" Ich stelle meinen Sixpack auf die Bierbank, sage meinen Vornamen und gehöre dazu, ohne dass irgendwer noch mehr über mich wissen will. Weitere Nachbarn kommen dazu, mit einigen symposiumshalber in Marburg gestrandeten Ethnologen im Schlepptau.

Renate und Richard von nebenan haben inzwischen noch den Fernseher rausgewuchtet. Die vier roten Sterne, die an jeder Ecke prangen, sind schon etwas älter. Die schwarz-rot-goldene Flagge in der Efeuhecke ist nagelneu.

Und dann wird das Wunder vom Rübenstein wahr: Zum Anpfiff sehen alle den Ball, geteilt in eine blasse Beamer- und eine auftrumpfende TV-Fraktion. Technikexperte Alex zieht übrigens den Fernseher vor und wird prompt belohnt: 1:0! Nach der ersten lautstarken Begeisterung wird zum Beamer rübergefrotzelt: "Habt ihr's auch gesehen?" Und: "Ist bei euch das 2:0 auch schon gefallen?!" Als kurz danach genau das tatsächlich passiert, bebt der ganze Rübenstein vor Übermut. Vom Beamer her dröhnt der Schlachtruf "Vierzehn zu nuhull!" Alex ist schon fast heiser: "Alter, was für'ne fette, geile Mannschaft!"

Zwei Häuser weiter wird plötzlich im zweiten Stock ein Textil aus dem Fenster geschwenkt. Eine Flagge? Nein, ein Staubtuch – mit einer jungen Frau dahinter, die aus irgendeinem geheimnisvollen Grund gerade jetzt Hausputz macht. Die Torschüsse fallen derweil, wie Richard anmerkt, im Minutentakt: "Wie die Tempo ins Spiel bringen, wunderbar!" – "Das ist Klinsis action, Alter!" Zur Halbzeit bekommen die Gassen-Hooligans fast noch Mitleid mit dem Gegner: "Mann, die Schweden machen sich so nackig!"

In die zweite Halbzeit geht das "wir" in der Gasse ziemlich cool: "Ich muß schon sagen, wir sind einfach besser." Aber der Spaß am Spiel wird nicht weniger, weder in München noch am Rübenstein, wo keiner bereit ist, auch nur eine Sekunde zu verpassen. Und dann hilft sogar noch das kollektive Luftanhalten – der Elfmeter segelt am Tor vorbei. Vermutlich ist es purer Zufall, daß aus dem oben erwähnten Fenster just ein nasser Putzlumpen ausgewrungen wird... Das Plätschern geht im Sprechchor unter: "Deutschland rockt, Schweden geschockt!"

Zum Schlußpfiff rockt auch der Rübenstein, alle jubeln und umarmen sich unterschiedslos über die Grenzen von Beamer- und TV-Fraktion, von neuchaotisch und altlinks hinweg. Lydia bringt das Flair auf den Punkt: "Das ist Schweden gegen Deutschland auf italienisch."

Ulrike Rohde

MiA allein zu Haus

Die Familie zu Gast bei Freunden, die Freunde zu Gast bei Familien. Bleibt der Chronist also solo, an diesem bedeutsamen Fußballnachmittag. Was nicht ganz stimmt, denn der bequemste Sessel des gesamten Hausstandes hat sich dankenswerterweise zu einer unbezahlten Frühschicht bereit erklärt und seinen alten Kameraden, den Philips-Farb-Portabel von 1992, gleich mitüberzeugt. Steht also einem vergnüglichen Non-Public-Viewing im angenehm temperierten, abgeschatteten Arbeitszimmer nix mehr im Wege.

Schnell hat sich das Auge an die extremen Kontraste auf dem Rasengrün gewöhnt. Sieht auch auf der 32cm-Mattscheibe irgendwie ganz dekorativ aus, wie in der ersten Halbzeit die Strahlen der Sonne aus dem oberen – in deutscher Spielrichtung links zu suchenden – Lichtbatzen das Spielfeld darunter gloriolenhaft gliedern. Und kommt dem Angriff des Klinsmännersturms entgegen. "Beware the hun in the sun", hieß es bei britischen Kampfpiloten im ersten Weltkrieg, und das hätten sich die Schweden mal besser hinter die Ohren geschrieben. Denn nach 10 Minuten waren die beiden Dinger drin, beide Male aus der Lichtflut heraus entwickelt. Kickerisches Können oder schicksalhafte Fügung, wer vermag das noch zu sagen?

Danach passiert nicht mehr allzuviel, in der zeitweisen Einsiedelei nicht und auch nicht auf dem Rasen. Einmal bricht sich ein halblaut monologisiertes "Mensch Schweini, was machste denn!?!" durchs ansonsten kommentarlos konsumierte Geschehen. Die Konzentrationsfesseln lockern sich sanft, aber bestimmt. Zeit, in die Küche nach was Süßem zu schnurren. Das lindgrüne Kostüm steht der Kanzlerin aller Deutschen aber gut zu Gesicht. Was für Wirkungskräfte könnte ein Mantra wie "Schwedischerschtürmerstar" freisetzen? Bizzelwasser ist doch kein Bierersatz und dieses Buch hier könnte man eigentlich auch mal wieder lesen. Warum hattn der Kahn immer so gefeixt der führtdochwasimschilde ...

Lautstark meldet sich die Außenwelt zurück. In München ist noch eine Viertelstunde zu spielen, und draußen auf der Straße feiern schon die ersten hupenden und grölenden schwarz-rot-goldenen Autokorsos den Einzug ihrer Mannschaft ins Finale. Dabei sollte der diesjährige Bundeskongress der freischaffenden Somnambulisten doch in Finsterwalde stattfinden? Auch läuten Kirchenglocken Sturm. Die Hausklingel schrillt, die Familie stürmt die Klause, die Kleine mit einer schwarz-roten Flagge im Gesicht verziert. Noch immer zehn Minuten Spielzeit. Deutschland ist schön im Siegestaumel.

Michael Arlt

Kollektiver Jubel im Grünen

Schon lange vor dem Anstoß geht nichts mehr in Gießens Public-Viewing-Area im Schiffenberger Tal. Mehr als 4500 Fußball-Fans haben sich vor der Großleinwand auf dem Open-Air-Gelände versammelt. Wer jetzt noch draußen steht, hat Pech gehabt, seit gut einer halben Stunde lassen die Ordner keinen mehr rein, trotz zahlloser Überredungsversuche: "Tut uns leid, aber es ist wirklich total voll."

Drinnen wimmelt es von Fans in Deutschland-Trikots und Fahnenschwenkern mit schwarz-rot goldenen Flaggen in allen Größen. Zwei Teenies haben sich sicherheitshalber den Text der Nationalhymne aus dem Internet gezogen und ausgedruckt – und singen zu Beginn der Live-Übertragung kurz vor fünf aus vollen Kehlen mit.

Das ist hier eine Mischung aus Badesee- und Festival-Atmosphäre", freut sich Nachbar Stefan und nippt an seinem frisch erstandenen Bier im riesigen Plastikbecher. "Ist das ein Liter?" "Klar." Die Klinsmänner sind inzwischen längst zum Angriff übergegangen. "Hau ihn rein!", brüllt Stefan. Podolski im fernen München fackelt nicht lange und hält sich dran – "Toooor".

Ein kollektiver Jubelschrei aus mehreren tausenden Kehlen – als sich alle gerade langsam wieder beruhigt und mit dem Fahnen schwenken aufgehört haben, darf schon wieder gefeiert werden: "2:0 nach 12 Minuten, das gibt's doch nicht, die spielen die Schweden schwindelig",ruft ein überglücklicher Fan mit schwarz-rot-goldener Gesichtsbemalung.

Ich hab' einen Liter Bier gewonnen", jubiliert Carsten am Bierstand mit gerötetem Gesicht. Den ein- oder anderen Liter hat er offensichtlich schon intus und ist in bester Feierlaune.

Ein Skeptiker blickt trotz der klaren Führung und der "Wir fahren nach Berlin"-Gesänge zweifelnd Richtung Leinwand, "ich glaube das wird noch eng. Ich habe 3:2 getippt." Grund: "Arne Friedrich hat nicht die Klasse für die DFB-Elf."

Als der brasilianische Schiedsrichter die rote Karte gegen Schweden zückt, brandet noch einmal Begeisterung auf, danach ist die Spannung bis zum verschossenen Elfmeter von Schweden raus.

Gemütlich im Gras liegend verfolgen die meisten das Geschehen auf dem Münchner WM-Rasen, und sammeln Kräfte für die Party nach dem Abpfiff: Eine Fan-Karavane zieht ausgelassen johlend zu Fuß ins Stadtzentrum. Wir folgen im langen Auto-Korso im Schritttempo. Eine Polizistin lenkt den Verkehr an einer Kreuzung lachend mit einer Deutschland-Flagge. Drei Jungs in weißen Trikots stecken uns ein Deutschlandfähnchen an die Seitenscheibe. "Ohne geht das nicht", sagen sie und skandieren "Berlin, Berlin. Wir fahren nach Berlin".

Georg Kronenberg



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