Express Online: Thema der Woche | 3. August 2006

Kratzen, kläffen, bellen

Mit parlamentarischen Tricks und verbalen Attacken liefern sich die einstigen politischen Partner Grüne und SPD in Gießen eine Schlammschlacht

Krachledernd wie Franz-Josef Strauß im Original : "Die SPD ist eine in die Enge getriebene Ratte." Doch Franz-Josef Strauß ist in diesem Fall eine Frau, heisst Gerda Weigel-Greilich und gehört nicht der CSU an,sondern den Grünen. Weigel-Greilich leitet bis vor Kurzem die Öko-Fraktion im Stadtparlament, jetzt läuft sie sich im ehrenamtlichen Magistrat für ihre nächste Aufgabe warm, das Amt des Bürgermeisters. Und eigentlich hat sie sichverbal im Griff, sagen selbst Greilich-Gegner. Inzwischen hat sie sich schriftlich entschuldigt, gleich aber wieder eine haarsträubende Rechtfertigung hinterhergeschoben: "Das war ein japanischesSprichwort", sagte sie einer überregionalen Tageszeitung. Die SPD fiel aus allen Wolken: "Diese Formulierung stammt aus dem nationalsozialistischen Wörterbuch des Unmenschen".

SPD und Grüne – in Gießen sind sie derzeit wie Hund und Katz'. Es wird gekratzt, gekläfft und ordentlich gebellt. Seitdem die Grünen mit CDU und FDP regieren, lassen die Sozialdemokraten keine Gelegenheit aus, ihren einstigen politischen Partner zu piesacken. Sie führen die Grünen geradezu vor, stellen sie als unglaubwürdig dar, als wankelmütig. Dabei bedienen sie sich eines ziemlich ausgebufften Tricks, um die Grünen in die Zwickmühle zu manövrieren: Sie bringen Resolutionen ein, deren Inhalts so grün ist, dass ein Grüner – eigentlich – gar nichtals anders kann als zu zustimmen, dann aber doch Nein sagt, weil die Koaltionspartner CDU und FDP auf den Koalitionsvertrag pochen. So kam es, dassdie Grünen bei eine Debatte im Mai zunächst klar Stellung bezogen gegen Studiengebühren, Minuten später aber eine entsprechende SPD-Resolution ablehnten. Und so kam es auch, dass ein junger Abgeordneter dagegen stimmte, die Strafanzeigen im Zusammenhang mit dem Sturm aufs Stadtbüro zurück zu nehmen - obwohl er selbst daran beteiligt war.

Den endgültigen Eklat brachte die letzte Parlamentssitzung: Zu Sitzungsbeginn brachte die SPD einen Dringlichkeitsantrag ein, dem Regierungspräsidium Gießen zu empfehlen, bis November dieses Jahres keineAusländer abzuschieben, die bereits länger als fünf Jahre in Deutschland leben. Ein wortgleicher Antrag wurde im schwarz-grün regierten Frankfurt fast unisono verabschiedet, nur die rechtsextremen NPD und Republikaner scherten aus. Hintergrund der kommunalen Anti-Abschiebe-Kampagne ist, dass Hessens Innenminister Volker Bouffier auf der für November geplanten Landesinnenminister-Konferenz ein Bleiberecht für diejenigen "geduldeten Flüchtlinge" erreichen möchte, die seit Jahren hier leben, arbeiten und integriert sind. Nichts anderes fordern die Landesgrünen.

Die Parteien der Gießener Jamaika-Koalition CDU, Grüne und FDP aber schmetterten denAntrag ab, indem sieihn erst gar nicht auf die Tagesordnung ließen. "Wir stimmen nicht über einen Antrag ab, der erst um 18 Uhr auf dem Tisch liegt", trotzte dieGrünen-Fraktionschefin Gerda Weigel-Greilich. Nicht gegen den Inhalt richte sich das Nein, einzig gegen die Form. Dieter Grothe, Abgeordneter der Grünen und Vorsitzender der FlüchtlingsinitiativeMittelhessen, sagte: "Die SPD hat uns überrumpelt". Zugleich schreibt er aber in einem Brief, dass die Antragsvorlage des Flüchtlingsrates "seit einigen Wochen in Fachkreisen zirkulierte." Inzwischen räumt Grothe ein: "Wir hätten professioneller reagieren müssen."

Die eigene Partei reagiert mit Unverständnis auf das Hick-Hick:Der innenpolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Jürgen Frömmrich, nannte das Verhalten der Gießener Grünen "bedauerlich", denn die kommunalen Resolutionen flankierten die gleichlautenden Anträge der Landesgrünen. Für Christine Schmahl, Fraktionschefin der Kreisgrünen, ist es "beschämend". "Nicht nachvollziehbar", ärgert sich der grüne Koalitionskritiker Walther Bien und merkt an: "Ein Dringlichkeitsantrag ist nicht unkoscher, man hätte sich in einer Sitzungspause beraten können." Außerdem müssten Formalien bei Themen, die grüne Grundsätze wie eben die Flüchtlingspolitik berührten, hinten anstehen.

In der Abstimmung zur Abschiebe-Resolution sehen viele Grüne keinen einmaligen Ausrutscher, sondern eine Folge desKoalitionsvertrages. Der sieht vor, dass Resolutionen der Opposition entweder einstimmig oder überhaupt nicht angenommen werden. "Das versteht in der Öffentlichkeit niemand. Ich weißnicht, wie lange ich so noch weiter machen kann", klagte die Stadtverordnete Sarah Sánchez-Miguel. Auch wenn Resolutionen nur symbolisch seien, dürfe man sich nicht außer Acht lassen. "Symbolik war unserer Politik immer sehr wichtig", so Sánchez-Miguel. Ihr Fraktionskollege Klaus Dieter Grothe: "Bei nicht-kommunalpolitischen Themen müssen wir die Möglichkeit haben, eigenständig abzustimmen". Mittlerweile hat die Mitgliederversammlung beschlossen, auf einschlägige Anträge der Opposition künftig mit einem gemeinschaftlichen Gegenentwurf zu reagieren. Für den Fall, dass die Koalitionspartner sich nicht einigen, soll die Abstimmung freigegeben werden. "Es wird noch oft rumpeln", prophezeit Walther Bien. Die Grünen dürften "ihr Gesicht nicht verlieren", mahnt Christine Schmahl. Die CDU müsse die Koalitionszügel lockern. Schmahl: "Das halten die Grünen nicht aus und auch nicht die Koalition".

Stefan Säemann

Express Online: Thema der Woche | 3. August 2006

Vom Forsthaus ins Klassenzimmer

"Förster zu Lehrern"
Die Idee zu dem Projekt "Förster zu Lehrern" stammt nach Auskunft des Personalleiters von Hessen-Forst, Hans-Dieter Treffenstädt, aus Niedersachsen, wo bereits ein Jahr zuvor eine ähnliche Aktion begonnen wurde. 59 Revierleiter im Alter zwischen 35 und 50 Jahren bewarben sich um die Maßnahme. Nach dem zweimonatigen Pflichtpraktikum waren noch 30 übrig – manche sprangen selbst ab, bei anderen rieten die Schulen ab. 13 von ihnen starteten die einjährige, so genannte Fachlehrerausbildung. 17 Förster – unter ihnen auch Henning Kaiser – haben ein verkürztes Lehramtsstudium von vier Semestern an den Universitäten Kassel, Gießen und Frankfurt aufgenommen. Eines ihrer Studienfächer ist Biologie. Nach jedem Semester unterstützt Hessen-Forst die angehenden Pädagogen mit einem Erfahrungsaustausch, um Probleme und Schwierigkeiten zu klären.
Auf die Förster, die während der Ausbildung ihre Gehälter behalten, wartet nach der bestandenen Prüfung eine Übernahmegarantie. Zudem sollen die meist seit Jahren in ihrer Region verwurzelten Familienväter einen möglichst heimatnahen Posten als Haupt- und Realschullehrer erhalten.
Die Lehrergewerkschaft GEW sieht das Projekt kritisch. So hält der GEW-Landesvorsitzender Jochen Nagel es für falsch, dass die Förster ein verkürztes Studium durchlaufen: "Die Landesregierung verzichtet nur deshalb auf die vollständige Ausbildung, weil sie diese selbst bezahlen muss", sagt Nagel. Darin stecke jedoch eine Abwertung des Lehrerberufs.
Gesa Coordes
Nach der hessischen Forststrukturreform verloren ein Drittel aller Förster ihre Jobs. Revierleiter Henning Kaiser aus Rauschenberg bei Marburg gehört zu den 30 Förstern, die als Lehrer in Hessens Schulen wechseln. Voraussichtlich ab 2008 wird er Biologie und Religion unterrichten.

Meinen geliebten Försterberuf mit irgendeinem Bürojob tauschen zu müssen, wäre für mich schlimm gewesen", sagt Henning Kaiser. Doch als im Zuge der Forststrukturreform 220 von 660 Revierleitern ihren Posten verloren, wurde das Projekt "Förster zu Lehrern" entwickelt. Kaiser meldete sich sofort. Schließlich waren nicht nur sein Vater und sein Großvater Schulleiter in Fritzlar und in seinem Heimatdorf Zennern gewesen, auch er selbst hatte sich einst um einen Lehramtsstudienplatz beworben. Doch weil er beim Forst angenommen wurde, ließ er das geplante Studium an der Gesamthochschule Kassel sausen: "Sonst wäre ich heute Studienrat für Geografie und Englisch", sagt der 47-Jährige.

1978 – er war damals 19 Jahre alt – faszinierten ihn Wald und Flur mehr. Nach der Landesforstschule sowie Stationen im Burgwald, der Rhön und auf dem Meißner landete er im Forstamt Rauschenberg, in dem er 20 Jahre lang blieb. "Bei der Waldpädagogik war ich von Anfang an dabei", erzählt Kaiser. Im Laufe der Jahre hat er Hunderte von Schülern und Kindergartenkindern in Führungen und Projekten für den Forst begeistert. Kaiser war sogar an einem Camp beteiligt, in dem das Leben in der Steinzeit nachgeahmt wurde - bis hin zum Feuerschlagen mit Flintsteinen und dem Zerlegen und Grillen eines Rehs ohne Messer.

Deswegen kann er die Kritik von Lehrerverbänden wie der GEW gar nicht nachvollziehen, die vor allem die um ein Jahr verkürzte Ausbildung monieren. "Das kann ja auch eine Bereicherung für die Schulen sein, wenn jemand Lebenserfahrung mitbringt", meint der 47-Jährige. Der Personalleiter von Hessen-Forst, Hans-Dieter Treffenstädt, ist sich sogar sicher, dass die Förster gute Lehrer werden: "Es ist nicht so, dass blindlings irgendwelche Förster auf die Kinder losgelassen werden."

Um auszutesten, ob der Lehrerberuf tatsächlich für ihn taugt, musste auch Kaiser zunächst ein zweimonatiges Pflichtpraktikum ableisten. Doch die Lehrer in der nahe gelegenen Alfred-Wegener-Gesamtschule in Kirchhain hätten ihn sehr gut aufgenommen, erzählt der Förster. Kaiser startete im Religionsunterricht ein kleines Projekt zum Thema Sucht – schließlich hat er einst im Zivildienst in einer Drogenhilfeeinrichtung gearbeitet. Er begeisterte die Fünftklässler mit echten Lämmchen und Zicklein, die er in den Biologieunterricht mitbrachte. Die Tiere wurde untersucht, gekämmt, gekrault und mit dem Fläschchen gefüttert. Das kam offenbar auch bei der Schule gut an, die ihm ein positives Zeugnis gab. Er verlängerte seine Hospitation freiwillig um sieben Monate.

Seit dem Wintersemester studiert er nun Biologie und Evangelische Theologie für die Sekundarstufe 1 an der Universität Gießen. Denn ohne Studium werden die Förster nicht auf die Schüler losgelassen – allerdings müssen sie in Biologie nicht das volle Programm absolvieren. Daher sollen sie das Studium in vier Semestern schaffen, für das normalerweise sechs Semester veranschlagt werden.

Dass er im Alter von 47 Jahren studieren kann, findet Kaiser "toll", wenngleich er für Erstsemesterpartys keine Zeit hat. Die Studentenproteste kann er allerdings gut verstehen. Er selbst ist indes in der Situation, bis zum Studienabschluss weiterhin seine Försterbezüge zu erhalten. Aus dem Rauschenberger Forsthaus muss er im kommenden Jahr ausziehen.

Sieben Hausarbeiten hat Kaiser bereits geschrieben. "Das tägliche Studium an der Universität ist nicht das Problem", sagt der Vater von zwei Kindern: "Aber Zeit zu finden, um abends neben der Familie zu lernen, ist schwierig." Wenn alles glatt geht, wird er 2008 als Biologie- und Religionslehrer in der Schule beginnen. Der Förster freut sich darauf: "Das ist für mich die richtige Perspektive."

Gesa Coordes



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