Express Online: Thema der Woche | 10. August 2006

Chefarzt experimentierte mit Rinderknochen

Die Marburger Staatsanwaltschaft will gegen einen ehemaligen Chefarzt des Uni-Klinikums wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung Anklage erheben.

Nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Hans-Joachim Wölk ermittelt sie in rund 270 Fällen gegen den Medizinprofessor, der mit Rinderknochen-Implantaten experimentiert hat. Die Fälle von etwa 20 Patienten sind für Wölk eindeutig: "Sie haben ausdrücklich gesagt, dass sie keine Rinderknochen-Implantate wollen." Trotzdem seien die Präparate als Ersatz für Schrauben und Stifte aus Metall bei Knie- und Gelenksoperationen verwendet worden. In diesen Fällen will die Staatsanwaltschaft nun zuerst Anklage erheben. Bei vielen anderen Patienten müssen aber zunächst Sachverständigen-Gutachten eingeholt werden, um zu klären, ob Folgeschäden, die bis zu Amputationen reichen, mit den Rinderimplantaten zusammenhängen.

In der Zeit von 1999 bis 2005 hat der damalige Leiter der Marburger Unfallchirurgie mit den strittigen Rinderknochenimplantaten gearbeitet. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft wurden viele Patienten nicht darüber aufgeklärt. Es seien Implantate mit abgelaufenem Verfallsdatum benutzt worden. Bei komplizierten Operationen soll der Mediziner die Präparate sogar selbst hergestellt haben. Eine Zulassung habe es dann natürlich nicht gegeben.

Der Fall flog auf, weil ihn – vermutlich ein Mitarbeiter – anonym bei der Leitung des Universitätsklinikums anzeigte. Das Klinikum wandte sich daraufhin an die Staatsanwaltschaft. Im April vergangenen Jahres wurde der Chefarzt vom Dienst suspendiert. Bis zum Erreichen seiner Altersgrenze Anfang 2007 wird sich daran auch nichts ändern: "Ziel der Universität ist es, dass er nicht zurückkommt, so lange die Vorwürfe nicht geklärt sind", erläutert der Leiter des Personal-Dezernats, Volker Drothler. Vor Gericht werden die ersten Fälle aber erst ab 2007 verhandelt.

Oberstaatsanwalt Wölk vermutet, dass sich der Medizinprofessor mit den neuartigen Implantaten ein "Denkmal" setzen wollte. Schließlich sei die Idee faszinierend. Der Einsatz von Knochen anstelle von Metallteilen hat nämlich den Vorteil, dass keine zweite Operation zur Entfernung von Schrauben und Stiften nötig ist. "Wenn es keine Komplikationen gegeben hätte, wäre er in die Geschichte der Medizin eingegangen", sagt Wölk. Doch während die Stifte in vielen Fällen funktionierten, löste sich bei manchen Patienten das Implantat auf oder der Körper wehrte sich gegen das fremde Material. Die Betroffenen klagten über Schmerzen und steife Gelenke. Ein Bein musste sogar amputiert werden. In wie weit dies eine Folge der Rinderknochen ist, müssen indes erst die Sachverständigen klären.

Ein Patient hat das Universitätsklinikum jetzt auf Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 10 000 Euro verklagt. Nach Auskunft von Rechtsanwalt Hans-Berndt Ziegler wollen noch ein Dutzend weitere Betroffene klagen. Der Fachanwalt für Medizinrecht ist sich sicher, dass es in diesen Fällen Schmerzensgeld geben wird, weil die Patienten nicht über die Rinderknochenimplantate aufgeklärt wurden: "Die Patienten wurden für dumm verkauft und im Dunkeln gehalten."

So wurde der 32 Jahre alte Kläger nicht darüber informiert, dass bei seiner Kreuzbandoperation Befestigungsstifte aus Rinderknochen verwendet wurden. Darauf hätte er sich angesichts der damaligen Diskussion über Rinderwahnsinn auch nie eingelassen. Bei dem Verfahren mussten die aus Schlachthöfen stammenden Knochen laut Ziegler zunächst von überschüssigem Fleisch befreit, gesäubert und entfettet werden. An einer Drehbank seien die Implantate dann nach Zeichnungen des Arztes gefertigt und bei über 121 Grad heißem Wasserdampf sterilisiert worden.

Fünf Jahre später stellte sich bei dem 32-Jährigen heraus, dass sich die Rinderknochenstifte und das daran befestigte Kreuzband aufgelöst haben. Der Mann musste erneut operiert werden, wobei die erfolgversprechendere Technik mit körpereigenen Patellasehnenmaterial wegen der Voroperationen nicht mehr möglich war.

Gesa Coordes



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