Express Online: Thema der Woche | 24. August 2006

Weg zum Glück

Schatzkiste
Die Partnerbörsen speziell für Behinderte gibt es seit 1998. Die erste Schatzkiste wurde damals in Hamburg eingerichtet, inzwischen sind bundesweit etwa ein Dutzend dazu gekommen.
Die Partnervermittlung ist nicht auf Gießen beschränkt. Kontakt: Susanne Wendel, Telefon 0641/96625200, E-Mail: schatzkiste@lebenshilfe-
giessen.de
Georg Kronenberg
Die Lebenshilfe Gießen hat eine Partnervermittlung für behinderte Singles eingerichtet. Die "Schatzkiste" ist eines von zwei Projekten in Hessen. Damit will man das Tabu Behinderung und Partnerschaft kippen.

Kai Pietzsch hält die rechte Hand waagrecht auf Nasenhöhe. "So groß muss sie sein", beschreibt der hochgewachsene 25-Jährige seine Traumfrau. Er trägt Jeans und Karohemd, über seinen kastanienbraunen Augen wölben sich kräftige Augenbrauen. "Sie muss sportlich sein, schwimmen, radfahren". Nur beim Krafttraining macht er eine Ausnahme. "Wie sähe das denn aus." Kai lacht viel. Was ihn aber traurig stimmt: "Mir fehlt eine Frau." Optimal wäre eine Autistin. "Das passt dann wenigstens zusammen", sagt er lachend. Kai Pietzsch ist selber Autist. Viel Geduld werde er wohl aufbringen müssen, bis er findet, was er sucht, "eine Partnerin fürs Leben".

Kai sehnt sich, wonach alle Menschen sich sehnen – ob behindert oder nicht-behindert: nach einem Partner, nach Nähe, Zärtlichkeit, Körperkontakt, Zuneigung, Freundschaft Liebe – auch Sex. Deshalb hat Kai sich an Susanne Wendel von der "Schatzkiste" gewandt, einer Partnerbörse speziell nur für Behinderte, die kürzlich von der Lebenshilfe Gießen gegründet wurde, nach Schwalmstadt die einzige in Hessen . "Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist es schwer, einen Partner zu finden, dabei ist der Wunsch so groß", erklärt Diplom-Pädagogin Wendel. "Sie sind oft sehr einsam."

In Dänemark gibt es für Behinderte sogar Körperkontakt per Arztrezept, einlösbar bei "Liebesdienerinnen". In Deutschland tauschen sich Behinderte derweil in Internetforen aus: Rollstuhlfahrer Uwe hat endlich eine eigene Wohnung: "Aber was mir zum Glücklichsein fehlt, ist eine Frau." Christian, 25, leicht behindert, fragt verzweifelt: "Ist es überhaupt möglich, als Mensch mit einer Behinderung einen Partner zu finden, seine sexuellen Bedürfnisse ausleben zu können?"

Susanne Wendel will zeigen, dass Behinderung und Partnerschaft sich nicht ausschließen, auch wenn das Thema gesellschaftlich nach wie vor mit einem Tabu belegt sei. "Es geht ja nicht primär um Sex, die große Liebe und Hochzeit, sondern erstmal um soziale Kontakte und Freundschaften." Noch herrsche unter den gut zwei Dutzend Teilnehmern ihrer Kartei ein Männerüberschuss. "Männern wird die Partnerbörse eher empfohlen. Bei Frauen haben Angehörige oft Angst vor sexueller Ausbeutung oder Schwangerschaften."

Auch Bernd Zemella, Diplom-Psychologe, Sexualberater und Gründer der ersten "Schatzkiste" in Hamburg, hat diese Erfahrung gemacht. Inzwischen zählt er 450 Klienten, pro Woche vermittelt er ein bis zwei. "Behinderten-Beziehungen sind in der Regel stabiler, da sie ihre Ansprüche nicht so hochschrauben wie Nicht-Behinderte", sagt Zemella. Zweimal schon habe die Vermittlung bis zum Traualtar geführt.

Zemella bedauert, dass die Diskussion um Sexualität und Familiengründung von Behinderten mit Vorurteilen überfrachtet sei. "Das Gros der Behinderungen ist nicht genetisch bedingt, sondern entsteht später. 70 Prozent bei Geburtskomplikationen wie Sauerstoffmangel, viele auch durch Unfälle." Die Behinderung werde somit nicht über die Gene an das Kind weitervererbt. Sicher berge die Erziehung eines "normalen Kindes durch behinderte Eltern" Risiken. Vor allem, wenn Kinder sich für Mamas und Papas Behinderung schämen. Allerdings seien Behinderte in ein Betreuungsnetz eingebunden, auf das auch die Familie zurückgreifen könne. "Die haben eine bessere Betreuung als eine Durchschnittsfamilie."

In Zukunft will Zemella seine Arbeit systematisch auswerten. Zwar habe sich seit Jahren, vor allem an der Uni Köln, ein Forschungszweig "Disability-Studies" etabliert, der sich mit selbstbestimmtem Behindertenleben befasse – es fehle aber an Projekten und Lehrinhalten.

Stefan Säemann



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