Express: Matze Schmidt, was sind deine Erinnerungen an die Aufführungen des Freien Theaters Marburg vom Anarchisten, damals noch auf der Studiobühne in der Ernst Giller Straße?
Schmidt: Die Inszenierung des Freien Theaters Marburg war entsprechend dem Zeitgeist der achtziger Jahre politisch hochmotiviert aber auch sehr ernst. Obwohl das Stück sehr lustig war und z.B. ein damaliger Presseartikel über das Stück titelte: Wer lacht hat keine Angst mehr.
Express: Was hat sich seit damals geändert?
Schmidt: Die Welt hat sich meiner Meinung nach komplett verändert. Die politischen Zustände, deren Offenlegung das Stück provozieren will, haben sich weiter pervertiert. Zwei elementare Fragen, die meiner Beschäftigung mit Dario Fo's "Zufälliger Tod eines Anarchisten" zugrundeliegend, sind: Wie geht die Staatsgewalt mit Organisationen um, die für sie gefährlich sind. Und was passiert mit Menschen, wenn sie in den Systemen der Staatsmacht verschwinden?
Express: Welche Beispiele hast Du dabei im Kopf?
Schmidt: Beim Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens blieb der Eindruck hängen, dass maßgebliche NPD-Funktionäre vom Staat bezahlte V-Leute waren. Auch eine Antwort auf die Frage, wie der in Bad Kleinen zu Tode gekommene RAF Aktivist Grams in Wahrheit starb, würde mich sehr interessieren. Dann natürlich Guantanamo, Abu Chureib und die transnationalen Foltergefängnisse diverser Antiterrorallianzen, die scheinbar auch auf deutsche Unterstützung zurückgreifen können.
Express: Im Stück schreibt Dario Fo, der bürgerliche Staat ist nicht zu reformieren, sondern abzuschaffen. Gilt dieses Ziel auch für deine Inszenierung?
Schmidt: Fo's Kapitalismuskritik ist durch eine gewisse manische Überspannung gekennzeichnet. Sinnvoller ist es, etwas gegen die gegenwärtige Realitätsverdrängung und gegen die Angst vor dem weiteren Zerfall menschlicher Zusammenhänge in unserer Welt zu unternehmen und den Menschen dabei gewisse Orientierungshilfen zu geben.
Express: Wie kann das gehen?
Schmidt: Dario Fo hat einmal gesagt: "Die Macht, und zwar jede Macht, fürchtet nichts mehr als das Lachen, das Lächeln und den Spott." Indem wir die Menschen zum Lachen bringen, setzen wir in ihnen Leichtigkeit, Erkenntnisprozesse und Kräfte frei, mit denen sie Dinge verändern können.
Express: Humor als Medium der Erkenntnis und Weltveränderung. Wie passt das mit politisch motivierten Theater zusammen?
Schmidt: Es passt. In Ladies Night haben wir Themen wie Arbeitslosigkeit, Depression und menschliche Verzweiflung spaßvoll seziert, entkrampft und dennoch zentral behandelt. Im zufälligen Tod eines Anarchisten geschieht die Enttarnung gesellschaftlicher Zusammenhänge am Beispiel eines Polizeipräsidiums, beamtenstübliches Sinnbild von destruktiver Autoritätshörig- und Gläubigkeit, das zunächst genüsslich aufgemischt und dann vollkommen auseinandergenommen wird.
Express: Wie bist Du bei der Inszenierung des Stückes vorgegangen?
Schmidt: In seiner jetzigen Form spiegelt die Produktion viele Prozesse und Ergebnisse wider, die im Verlauf der Proben entstanden sind. Die Inszenierung wurde von uns im Ensemble gemeinsam in dem Maße absurd und komisch angelegt, in dem wir unserer Lust auf Verfremdung mit fast kindlicher Freude freien Lauf ließen. Das kommt der Form des Theaters in der Tradition der Comedia del Arte nahe und greift Elemente des Pop-Theaters auf.
Express: Woran denkst Du dabei im Speziellen?
Schmidt: Zum Beispiel an den Wachtmeister, der gleichzeitig an einer ohne Bodenhaftung frei im Raum schwebenden Bar Cocktails mixt und in regelmäßigen Abständen mit seinen Waffen sinnlos an die Decke ballert. Von seiner Ballerei sexuell angetörnt lässt sich die Journalistin auf einen Liebesakt mit dem mittlerweile zum Bischof mutierten Verrückten ein, während der Kommissar, der seine Amtsstube mit einer James-Bond-Hechtrolle zu betreten pflegt, abermals in seiner hysterischen Desorientierung kollabiert und die zwei am Tode des Anarchisten hauptbeschuldigten Polizisten wie Fische gefangen am Kleiderständer hängen.
Express: Während bei Dario Fo am Schluss der wahre Untersuchungsrichter kommt und das ganze Spiel von neuem beginnt, fliegt in deiner Inszenierung alles in die Luft. Nur der Verrückte und der Wachtmeister bleiben am Leben.
Schmidt: Zwischen den beiden gibt es eine Sympathielinie. Dadurch wird der Wachtmeister und Waffenfetischist mit seiner ganzen Exzentrik aufgewertet, auch wenn für ihn ursprünglich nicht mehr als der Status einer Nebenfigur vorgesehen ist. Wenn der Verrückte bilanziert: "Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße und genau deshalb tragen wir den Kopf so hoch erhoben.", dann ist das ein starkes Bild für den wahren Zustand unserer Gesellschaft, für die eben der einfache Wachtmeister stellvertretend stehen bleibt.
Copyright © 2006 by Marbuch Verlag GmbH |