Express Online: Thema der Woche | 2. November 2006

Von Wanderern und Wegen

Individuelle Migrationen: von der kleinen Flucht per Pedes aus dem Alltag bis zur aufgezwungenen Flucht aus dem Heimatland

Wenn es stimmt, dass sich die Protagonisten der menschlichen Zivilisation und Weltbevölkerung vor Urzeiten in der ostafrikanischen Savanne zu Fuß aufmachten, um andernorts ein neues und besseres Leben zu suchen, dann gibt es erstaunliche Parallelen zu den gegenwärtigen Wanderbewegungen ihrer Nachfahren. Egal, ob die Wanderung von Pforzheim nach Schaffhausen, von Mexiko in die USA oder von Zentralafrika nach Spanien und weiter in ein anderes EU-Land führt: Wer wandern will, muss sich gut vorbereiten oder viel riskieren.

Wo wir nicht zu Fuß waren, dort waren wir niemals mit unserer ganzen Präsenz und Aufmerksamkeit, so das Credo des modernen Wanderns. Zeit für Beobachtungen der ganz anderen Art, für Entschleunigungen und Erlebnisse jenseits des gewöhnlichen Alltages in ein, wenn auch temporäres besseres Leben zurück zur Natur. Wandern ist dieser Tage ohne Zweifel ein vielbeachtetes Phänomen, und das hat eine gewisse Tradition. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierte sich mit den Wandervogelbewegungen in Anlehnung an die philosophische Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine eigene Protestform gegen die bürgerliche Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreiches. Ihre Ziele, die Überwindung des beengten Stadtlebens und der Bruch mit den starren Konventionen der damaligen Zeit nährten den Traum nach einer grundlegenden Lebensreform und Radikalität der Jugend, die zum Ausgangspunkt der ersten großen Jugendbewegung in der deutschen Geschichte wurde.

Ebenfalls vor ca. 100 Jahren, im März 1904 wurde vom damaligen Schwarzwaldverein die Wegführung des Ostweges, einer von drei Höhenwanderwegen durch den Schwarzwald, festgelegt. In zwölf Tagesetappen führt dieser 240 Kilometer lange Fernwanderweg von Pforzheim nach Schaffhausen und bietet eine Vielfalt von Naturerlebnissen und kultur-historischen Gegebenheiten. Trotz der sehr guten Organisation von Wegbeschilderungen und Übernachtungsmöglichkeiten ist die Ostwegwanderung anstrengend und z.B. nur mit geeignetem Schuhwerk, genügend Wasser- und Nahrungsreserven und bei guter Gesundheit anzuraten. Wer unterwegs in Pensionen und Hotels übernachtet, braucht Geld und gültige Ausweispapiere sowie eine gute Beobachtungsgabe für die Natur- und Wetterverhältnissse, damit rechtzeitig Schutz vor Gewittern und anderen Widrigkeiten gesucht werden kann. Versteht sich von selbst. Wer sich den Luxus einer Ostwegwanderung gönnt, der kann sich mit dieser, wenn auch kleinen Flucht, wohltuend aus seinem Alltag herauswandern.

Existentieller wird es, wenn Menschen sich dazu entschließen, ihre Heimat zu verlassen, weil sie in ihr keine Zukunftsperspektiven mehr sehen. Laut Statistik entschlossen sich 2005 ca. 145.000 Bundesbürger zur Auswanderung in ein anderes Land, u.a. weil sie sich die soziale Kälte in Deutschland nicht mehr antun wollen. Dabei bevorzugten diese Auswanderer, oft sind es Forscher und Fachkräfte, vor allem die Schweiz und die USA als Orte, in denen sie sich ein besseres und sichereres Leben vorstellen können. Im gleichen Zeitraum kehrten aber nur 128.000 Menschen von Auslandsaufenthalten nach Deutschland zurück. Allein dem Umstand, dass im gleichen Jahr ca. 90.000 sogenannte Ausländern ebenfalls in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland einreisten, ist es zu zuschreiben, dass das ohnehin unausgewogene Verhältnis von hoher Sterberate und geringer Geburtenrate die Gesamtbevölkerung im Lande nicht noch weiter schrumpfen lässt. Ungeachtet dessen fehlen der deutschen Wirtschaft gegenwärtig ca. 18.000 freie Ingenieure, und wenn Migrationsbewegungen ein Zeichen für die wirtschaftlichen Perspektiven eines Landes sind, dann sieht es nicht gut aus für "made in Germany".

Oft sind es zudem gut ausgebildete, aktive und hochmotivierte Menschen, die sich zu einer Auswanderung in eine neue Welt entschließen. Dies gilt sowohl für deutsche Bundesbürger wie auch für Menschen, die sich mit der Entscheidung zur Abwanderung in den ärmeren Ländern auf die Suche nach mehr Wohlstand und Lebenssicherheit begeben. Mit dem großen Unterschied, dass in den ärmeren Ländern der Grad der Lebensbedrohung durch Hunger, Gewalt und Verfolgung ungleich höher sein kann bzw. ist und die Flucht vor dieser Bedrohung oft die einzige Hoffnung dieser Menschen auf Rettung ist. Trotzdem sind es auch in den Entwicklungsländern und Krisenregionen oft die Stärksten der Starken, die sich zur Abwanderung entschließen. Während ihre Einwanderung den reicheren Industrienationen und Ländern Nutzen bringt, schadet die Abwanderung ihrer Besten den armen Ländern. Die Schere zwischen reichen und armen Ländern geht weiter auf. Da hilft es auch nicht, dass internationale Emigranten aus den Entwicklungsländern jährlich schätzungsweise bis zu 167 Milliarden US Dollar an ihre in der Heimat zurückgebliebenen Familien überweisen. Das ist fast das Doppelte von dem, was die reichen Länder den armen an Entwicklungshilfe gewähren und dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Weltweit befinden sich über 150 Millionen sogenannte internationale Migranten in Wanderbewegungen und müssen sich oft ohne gültige Papiere und gegen den Hass und das Unverständnis ihrer Gastgebergesellschaften behaupten. Das UN-Flüchtlingskommissariat schätzt, dass es z.B. im Irak über 1,5 Millionen sogenannte Binnenvertriebene auf der Flucht gibt. Allein in Deutschland leben derzeit nach Angaben von Flüchtlingsorganisationen ca. 200.000 Flüchtlinge in einer sogenannten Duldung, darunter etwa 120.000 von ihnen seit mehr als fünf Jahren. Diese Menschen haben keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel, ihre Abschiebung ist lediglich vorübergehend ausgesetzt, bis diese aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen durchgeführt werden kann.

Ob aufgezwungene Flucht oder selbstgewählte Wanderung, es sind immer Menschen und menschliche Schicksale, über die wir nachdenken sollten, wenn wir von Gastfreundschaft, Bleiberecht und einer zukunftsweisenden Gerechtigkeit sprechen, die allen Menschen ein besseres Leben ermöglicht.

Thomas Gebauer



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