Express Online: Thema der Woche | 16. November 2006

Moleküle zum Fühlen

Stadt der Blinden
Mit ihren weißen Langstöcken gehören die Blinden und Sehbehinderten in Marburg zum Stadtbild. In keiner anderen deutschen Kommune gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Sehbehinderte wie in der Universitätsstadt, in der etwa 700 Betroffene leben.
Stadt und Universität haben sich längst fast vollständig auf die Blinden eingestellt. Bereits Anfang der 70er Jahre wurde die erste akustische Ampel Deutschlands eingeführt. In vielen Restaurants und in der Mensa gibt es Speisekarten in Punktschrift. Sprechende Aufzüge, plastische Stadtpläne und Kaffeeautomaten mit tastbaren Punkten erleichtern das Leben. Die Folge: 30 Prozent aller blinden Hochschüler studieren in Marburg.
Gesa Coordes
In Marburg sitzt das älteste und das einzige grundständige Blindengymnasium Deutschlands. Mit viel Sport, Mobilitätstraining und speziellem Unterricht bereiten sich hier 280 Sehbehinderte auf das Leben vor.

Was eine Diagonale ist, konnten sich die Schüler von Mathematiklehrer Matthias Weström gar nicht vorstellen. So eine Linie schräg im Raum ist schon für manchen Sehenden schwer zu erfassen. Für die Blinden und Sehbehinderten musste sich der Schulleiter der Marburger Blindenstudienanstalt etwas einfallen lassen: Er baute ein Klassenzimmer im überschaubaren Format so nach, dass die Schüler ertasten konnten, wo die Diagonale im Raum verläuft.

Das Experiment ist typisch für die Blindenstudienanstalt (Blista): Möglichst viel wird durch Versuche gelernt. Was beim Sehen fehlt, wird durch eigenes Fühlen, Hören oder Riechen ersetzt. Es gibt Modelle, um Erdbeben zu verstehen, Menschenfiguren zum Auseinandernehmen, Moleküle zum Zusammenstecken. Strom und Farben werden in Töne umgesetzt, Stickoxyd geschnuppert.Dazu kommen viele Exkursionen und Praktika.

Die Marburger Blindenstudienanstalt ist nicht nur das älteste Blindengymnasium Deutschlands, sondern auch das Einzige, das bereits mit Klasse 5 startet. Die Heranwachsenden kommen aus allen Gegenden Deutschlands und leben in 40Wohngruppen. Die meisten teilen die Erfahrung, dass eine Integration in normalen Gymnasien eben doch nicht funktioniert. So war die Zehntklässlerin Katharina Moroz vor ihrem Wechsel nach Marburg für ein Jahr auf einer normalen Kölner Schule. "Das war schwierig, weil ganz viel an die Tafel geschrieben wurde", erzählt die 16-Jährige. Auch vergrößerte Kopien und Blindenschrift-Bücher fehlten.

Solche Unterlagen sind an der Blindenstudienanstalt so selbstverständlich, dass sie kaum erwähnt werden. Das private Gymnasium, dessen Schulgebühren von den Sozialhilfeträgern übernommen werden, hat aber auch ungewöhnlich kleine Klassen: Die Höchstgrenze liegt bei 13 Schülern. Mitunter sitzen aber auch nur fünf Jugendliche in einer Klasse. Das bedeutet, dass jeder im Unterricht zu Wort kommt. "Aus Sicht der Schüler ist das mitunter sehr unangenehm, weil sie sich nicht verstecken können", weiß Blista-Sprecher Rudi Ullrich.

Aber schließlich wollen sie auch das Zentralabitur schaffen. Die Schulzeitverkürzung in Hessen machen die Schüler allerdings nicht mit. Trotz aller Unterstützung bräuchten Blinde mehr Zeit, um Texte zu lesen und Aufgaben zu rechnen, erklärt Schulleiter Weström.

Um die Jugendlichen auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten, setzt die mit einem Internat verbundene Einrichtung aber nicht nur auf den Unterricht. Die Jungen und Mädchen wohnen von Anfang an in betreuten Wohngruppen, die über die gesamte Stadt verteilt sind. Es gibt ein Mobilitätstraining, mit dem sie Schulwege, Busfahren und Einkaufen lernen. "Ich kann heute mit dem Zug allein nach Hause fahren", freut sich der Zehntklässler Björn Peters.

Wie behütet manche Schüler bis dahin aufgewachsen sind, zeigt sich am Beispiel eines Jugendlichen, der die Aufgabe hatte, Äpfel einzukaufen. Er konnte die Früchte im Supermarkt partout nicht entdecken, weil er sie bislang nur als klein geschnittene Stückchen kannte. In den Wohngruppen lernen sie im Laufe der Jahre auch Kochen und Putzen, bei Bedarf auch Schminken und Backen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Denken", sagt Weström. Deswegen legt die Blindenstudienanstalt auch großen Wert auf den Sportunterricht, von dem viele Blinde in normalen Schulen ausgeschlossen werden. In Marburg lernen sie Reiten, Schwimmen, Skilaufen, Fahrradfahren, Rudern und Judo. Selbst Rollerskates und Surfbretter werden ausprobiert.

Der Erfolg gibt dem Gymnasium recht. Es schaffen mehr Schüler das Abitur als in normalen Schulen, auch der spätere Studienerfolg ist größer. Der größte Nachteil sei die Entfernung von der Familie, erzählt die 16-jährige Katharina Moroz. Auch jetzt vermisse sie Eltern und Geschwister mitunter noch sehr.

Gesa Coordes



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