Express: Sie sprechen in ihrer Dokumentation von einen "Aufstand der Studenten" ist das nicht sehr hochgegriffen?
Keßler: Das glaube ich nicht. Die Demonstrationen hatten eine andere Vehemenz als früher. Bahnhöfe sind besetzt worden, Autobahnen blockiert. Das ist zum Beispiel 2003 bei den Protesten gegen die Langzeitstudiengebühren nicht passiert. Und gerade vergangene Woche waren in Frankfurt wieder hunderte Studierende und Schüler auf der Straße und haben anschließend die Agentur für Arbeit besetzt. Das sind neue Formen von zivilem Ungehorsam, die man vorher so nicht hatte.
Express: Nach dem Vorbild Frankreich?
Keßler: Ja. Auch wenn das ist sicher noch nicht zu vergleichen ist, mit den erfolgreichen Massenprotesten in Frankreich im vergangenen Frühjahr, die bei vielen aktiver Studenten wohl Vorbild sind. Aber man kann sehen, dass sich auch hier in Deutschland was bewegt.
Express: Tatsächlich? Bewirkt hat der inzwischen abebbende Protest gegen die Studiengebühren aber nichts. Die Landesregierung ist hart geblieben.
Keßler: Als Reaktion auf die Protestwelle gegen Studiengebühren hat die Koch-Regierung immerhin einige Abstriche im Gesetzentwurf vorgenommen. Zum Beispiel dass ausländische Studierende nicht mehr bis zu 1.500 Euro pro Semester bezahlen müssen, wie zunächst geplant, sondern 500 Euro.
Der Haupteffekt der bisherigen Proteste ist aber die Politisierung eines Teils der Studentenschaft. Ich glaube deshalb auch nicht, dass der Protest bald vorbei ist. In Frankfurt sind in jüngerer Zeit auch die Schüler immer stärker aktiv, an vielen Schulen hat es Vollversammlungen gegeben.
Und nachdem das Gesetz ja inzwischen beschlossen wurde, setzten die Studenten auf andere Formen des Widerstands. Etwa in Form einer "Verfassungsklage von unten" gegen das Studienbeitragsgesetz, für dieja nicht nur Studierendenvertretungen, sondern auch Elternverbände, Schülerverbände, Gewerkschaften, Kirchen, ganz viele unterschiedliche Organisationen mobil machen. Genau das ist aus meiner Sicht eine neue Qualität: dass bei den Protesten immer mehr gesellschaftliche Gruppen am einem Strang ziehen.
Express: Was für Sie ein Indiz dafür ist, dass sich in Deutschland ein neues Netzwerk von sozialer Opposition entwickelt, weil immer mehr Menschen erkennen, dass ein Teil der Bevölkerung sozial ausgeschlossen ist.
Keßler: Beispiele dafür gibt es genug. Bei den Hartz IV-Protesten haben Leute von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, mit Leuten von Attac oder Verdi vor Ort soziale Bündnisse geschlossen."Kick it like Frankreich" zeigt die Ansätze, wie Studierende etwa mit dem DGB zusammenarbeiten. Was auch sehr widersprüchlich ist und schwierig, weil es sehr unterschiedliche Protestkulturen bei Studierenden und Gewerkschaftlern gibt. Aber ich glaube, dass diese Entwicklung weitergeht.
Interview: Georg Kronenberg
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