Express Online: Thema der Woche | 25. Januar 2007

Zahn der Zeit

Schottisch-irische Dramatik und das Dilemma vom Lauf der Dinge: In David Harrowers Blackbird im TiL sitzen die Narben der Vergangenheit tief und in Becketts Warten auf Godot im Gießener Stadttheater ist die Zeit ein weißes Nichts

Ein Zimmer wie nach dem Angriff, da hat die Requisite ganze Arbeit geleistet. Überall leere Chipstüten, Flaschen und sonstiger feierlicher Unrat, in dem sich die beiden Schauspieler Nicole Lohfink und Markus Rührer als Una und Ray wieder begegnen. Der Müll, eine ebenso schlichte wie optisch sinnfällige Metapher, für all den Unrat, den ihre einstige Beziehung und die Gesellschaft auf ihre Lebensläufe gekippt haben.

Lohfink gibt überzeugend die wütend verzweifelte Una, die nach Jahren des alttäglichen Martyriums aus Ausgrenzung und Therapiendschungel Ray aufsucht, der sich als mickriger Pharmazieangestellter unter neuem Namen ein eben solches Leben aufgebaut hat. Ray hat die damals 12jährige Una mit Anfang 40 missbraucht, oder wohl eher eine Affäre mit ihr gehabt. Diese Dialektik zwischen Tabubruch und echter Liebe verhandelt das Stück "Blackbird" des schottischen Gegenwartsdramatikers David Harrower auf einzigartige und beklemmende Weise.

In der Regie von Sarah Kors gedeiht das Drama aus Lolita-Reminiszenzen und Pädophilieverdacht zu einem bedrückenden Stück Theater zwischen Schuld und Versöhnung. Eine destruktive Symbiose ist hier am Werk, die unter die Haut geht und die Parallelitäten von Schuld und Leidenschaft in einer 360-Grad Perspektive zeigt.

Wir sind nie umgezogen.", wiederholt Una zigfach. Eine detaillierte Erinnerung wird auf die Bühne gekehrt und einer juristisch-moralischen Auseinandersetzung preisgegeben. Die Art der Sympathielenkung für die Protagonisten des knallharten Psychogramms wirkt wie ein Schlagabtausch ohne gleichen.

Ray kam damals für sechs Jahre in den Knast, Una in die Mühlen der Therapie. Und jetzt, ein Jahrzehnt nach "dem Vorfall", stellt sie ihn zur Rede. Ein Schock für beide, der im Angesicht einer Humanität beinahe eine Erlösung zu finden scheint.

Schuldlos anders bei Beckett: "Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert.", sagt Wladimir einmal zu Estragon, der die gelbe Rübe der weißen so unverhohlen vorzieht, als gäbe es da noch Variablen in der Randexistenz der beiden heimatlosen Landstreicher, die nur noch die Zeit besitzen um sie abzuwarten.

Diese Entzeitlichung der Existenz in Samuel Becketts legendärstem Stück des so genannten Absurden Theaters gerinnt in der aktuellen Giessener Inszenierung von Astrid Jacob zu besonders poetischer Intensität.

Ein umgestürztes Klavier an der Seite der Vorderbühne. Der Rest: Ein Guckkasten als umgekippter weißer Trichter, der nach hinten spitz in den Fluchtpunkt der Zentralperspektive zuläuft und ein kleines schwarzes Quadrat ausspart - so sieht das eindrucksvolle Bühnenbild von Lukas Noll wieder einmal aus. Originär sinnbildlicher Stellvertreter für die Neutralisierung des Raums und den Stillstand der Zeit.

So weiß die Nichtfarbe dabei als Metapher für das allgemeine Nichts funktioniert, so funktional auch der Trichter, der durch die niedrige Decke am Ende und oft gebückte Schauspielerrücken die operationale Puppenwelt aus "Being John Malkovich" gleich mit assoziiert.

Dazu das schwarze Quadrat, das sich die Assoziation mit Kasimir Malewitsch und dem Endpunkt seit der Entwicklung des dreidimensionalen Bildraumes nicht verwehren kann.

Dazu taucht Jacob ihre glänzend aufgelegten Schauspieler in ein Licht, das man so selten am Gießener Stadttheater gesehen hat: Dabei sind es eigentlich nur drei Einstellungen, mit denen Jacob jedoch Stimmungen zwischen Tag und Nacht herbeizaubert, die einerseits tief berühren und gleichzeitig visuell beeindrucken. Becketts diabolische Ironie kann sich bei Jacob voll entfalten.

Die Zusammenkunft der beiden Landstreicher mit den beiden personifizierten Allegorien Pozzo (Gemeinheit) und Lucky (Elend) wirkt nicht minder intensiv, vor allem wegen der klaren und oftmals nahezu symmetrischen Positionierung der Schauspieler im Raum.

Christian Fries gibt dabei einen überaus geladenen, gar faschistoiden Pozzo zwischen französischem Flic und devotem Schnullermacho. Selten hat ein Lucky so überzeugend gebeutelt gewirkt wie Issak Dentler, der seinen pseudointellektuellen Monolog regelrecht verlallt, um das angemessene Elend dieser feudal obsessiven Beziehung der beiden aus sich rauszukehren. Roman Kurtz gelingt eine große Verwandlung für einen zerrissenen Wladimir, zwischen Entschlossenheit und Naivität und Johannes Lang verleiht seinem Estragon ein dialektisches Knoaxeln, dass es nur so eine bayerische Freude, obwohl dieser Estragon sich gerne auch mal Breisgau oder Emsland anschauen würde.

Schließlich ist es die gesunde Waagschale der Mittel, die für den Publikumserfolg und letztendlich eine grandiose Inszenierung sorgt, die schon vor der Pause mit seichtem Szenenapplaus bedacht wurde. "Wir können nicht, wir warten auf Godot", diese so simple und doch kräftige Kausalformulierung hallte noch lange am Abend nach.

Weitere Vorstellungen "Warten auf Godot": 27. Januar sowie 3. und 9. Februar; weitere Vorstellungen "Blackbird": 4. sowie 22. Februar

Rüdiger Oberschür



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