Express Online: Thema der Woche | 1. März 2007

Marburger Studenten bleiben weg

Zentren gebildet
Die Landesregierung hat kleine geisteswissenschaftliche Fächer in drei Zentren in Hessen konzentriert. Gießen hat das im Sommer 2006 gegründete Zentrum Östliches Europa erhalten, in dem neun Professoren lehren. Dafür ging die Professur für Islamwissenschaften an Marburg.
Marburg erhält das Centrum für Nah- und Mittelost-Studien, in dem die hessische Orientforschung konzentriert wird. Die Hochschule musste jedoch sowohl auf die Turkologie, die in Gießen bleibt, als auch auf die Frankfurter Judaistik verzichten. Zudem wurden Japanologie, osteuropäische Geschichte und Slawistik geschlossen.
Frankfurt bekommt das Zentrum für Ostasien-Wissenschaften. Dafür musste die Goethe-Universität die Studiengänge Orientalistik und slawische Philologie abgeben.
Gesa Coordes
Die Marburger Slawistik und die Osteuropäische Geschichte sind in das neu gegründete "Gießener Zentrum Östliches Europa" verlegt worden. Doch seitdem bleiben die Marburger Studenten weg. Ihre Klagen wurden abgewiesen.

Das ist unser Frustraum", sagt Studentin Esther Abel beim Blick auf die Umzugskartons, die sich im Projektraum des 9. Stocks der Philosophischen Fakultät stapeln. Zurzeit wechselt die Habe der Osteuropahistoriker nach Gießen. Die Slawisten haben ihre langjährigen Arbeitsstätten schon vor Monaten geräumt. Bei ihnen residieren jetzt das neue Zentrum für Lehrerbildung und die Islamwissenschaften. Die Studierenden hätten eigentlich schon zum Wintersemester in das auf Geheiß der Landesregierung gegründete Zentrum Östliches Europa nach Gießen wechseln müssen. Ihre Studiengänge wurden geschlossen.

Gemeinsam mit sechs weiteren Studenten hat Esther Abel vor dem Verwaltungsgericht geklagt, um ihr Studium in Marburg beenden zu können. Doch die Klagen wurden zurückgewiesen. Die Pendelei ins 35 Kilometer entfernte Gießen sei zumutbar, urteilte das Gericht. Dass es mit öffentlichen Verkehrsmitteln pro Strecke eine Stunde und 15 Minuten dauere, um zur Gießener Hochschule zu gelangen, habe die Richter auch in der zweiten Instanz nicht beeindruckt, ärgert sich Abel.

Die Marburger haben daraus offenbar ihre ganz eigenen Konsequenzen gezogen. Von den bislang 170 Slawistik- und Osteuropastudenten wechselten nur 24 nach Gießen. Wo die übrigen geblieben sind, wissen die Professoren auch nicht so genau. Viele seien jedenfalls an Universitäten außerhalb Hessens gewechselt, berichtet Prof. Stefan Plaggenborg. Im aktuellen Proseminar für Osteuropäische Geschichte in Gießen säßen nur vier Studenten, darunter nicht einer, der für das Fach eingeschrieben sei. Sekretariat und Geschäftsstelle seien erst im Januar eingerichtet worden. "Eine absolute Fehlplanung", ärgert sich der Osteuropahistoriker, der nicht verstehen kann, warum das neue Zentrum nicht in Marburg eingerichtet wurde. Plaggenborg verweist auf die lange Tradition des Forschungszweiges - schon der Moskauer Uni-Gründer Michael Lomonossow studierte in Marburg -, die zahlreichen Partnerschaften und das Herderinstitut, in dem der größte Teil der Literatur lagert. "Das ist bolschewistische Hochschulpolitik: Wir schlagen kaputt, was sich bewährt hat", sagt er.

Ganz so einfach ist die Geschichte für seinen Kollegen Reinhard Ibler von der Slawistik allerdings nicht. Natürlich wäre Marburg ein "hervorragender Standort" für das Zentrum gewesen. Allerdings hatte die Marburger Hochschulleitung die Slawistik auf die Abschussliste gesetzt. Die Alternative zum Umzug nach Gießen sei zumindest für die Slawistik das allmähliche Aushungern des Faches gewesen. In Gießen gebe es doch zumindest eine Perspektive.

Die Direktorin des neu gegründeten Zentrums für östliches Europa Monika Wingender teilt die Einschätzung der Marburger auch grundsätzlich nicht. Die Gießener Slawistik sei zumindest zuletzt stärker ausgebaut gewesen als in der Nachbarstadt. Zudem gebe es auch in Gießen eine lange Tradition der Osteuropaforschung mit Schwerpunkten in fast allen Fachbereichen und dem Zentrum für internationale Entwicklungs- und Umweltforschung. Nur die Professur für Osteuropäische Geschichte sei zwei Jahre vakant gewesen.

Nach Einschätzung Wingenders ist die neue Einrichtung "sehr gut angelaufen". Mit jetzt 350 Studierenden sei die Zahl der Interessenten deutlich stärker als im bundesweiten Trend gestiegen. Die Slawistikprofessorin ist überzeugt, dass "die in Deutschland einmalige Konzeption von Osteuropa" in Zukunft noch mehr Studenten anlocken wird. Die Besonderheit des Zentrums liegt nicht nur in seinem interdisziplinären Ansatz. Mit der Turkulogie werden auch die ehemaligen türksprachigen Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan einbezogen. Allerdings sollte ausgerechnet dieses Fach ursprünglich in das neue Zentrum für Orientwissenschaften nach Marburg wechseln. Es gelang den Gießenern jedoch, die Turkologie an der Justus-Liebig-Universität zu halten.

Gesa Coordes



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