Express Online: Thema der Woche | 14. Juni 2007

Späte Ehre für den Fluchthelfer

Gerechte unter
den Völkern
Den Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern" haben bis heute mehr als 21.300 Menschen aus der ganzen Welt erhalten, darunter rund 430 Deutsche. Die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrt damit Menschen, die Juden beim Überleben geholfen haben.
Gesa Coordes
Der streitbare Marburger Theologieprofessor Stephan Pfürtner (84) ist Ende Mai von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet. Er verhalf drei Jüdinnen zur Flucht.

Es war ein Freitag, Anfang November 1944. Es war regnerisch, neblig und nass. Das war ein Glück, weil die Spürhunde der Gestapo keine Witterung aufnehmen konnten. Am Abend zuvor war der damals 22-jährige Stephan Pfürtner die 50 Kilometer von seiner Heimatstadt Danzig zu dem Bauernhof an der Ostsee geradelt, wo die drei jungen Frauen aus dem KZ Stutthof bei der Ernte halfen. Er brachte ihnen gefälschte Papiere, Perücken und Kleider, mit denen sie den Zug nach Danzig besteigen konnten. Tags darauf holte er sie vom Bahnhof ab. Die Halbjüdin Gottschalk wurde bei seiner Familie versteckt, Ida Levithan war schon unterwegs bei einem polnischen Freund untergetaucht. Ellen Laumann brachte er zum Zug nach Berlin. Alle drei Frauen haben die NS-Zeit überlebt, wenngleich Ellen Laumann noch einmal aufgegriffen und ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Gerda Gottschalk wohnt bis heute am Bodensee.

Wir waren ursprünglich keine dezidierten NS-Gegner", sagt der heute 84-Jährige, der in einer katholischen Familie mit fünf Geschwistern aufwuchs. Mit Kriegsbeginn meldete er sich – noch vor dem Abitur – freiwillig an die Front. Warum er den Befehl erhielt, noch auf Flüchtende zu schießen, verstand er allerdings schon damals nicht. Er feuerte einfach in die Luft. 1941 ging er zu einer Sanitäts-Einheit nach Lübeck, wo er Medizin studierte und sich einer Gesprächsgruppe mit katholischen Geistlichen anschloss. Ein Spitzel verriet die Gruppe. Pfürtner wurde von der Gestapo verhaftet. Der Vorwurf: Er hatte sich über Hermann Göring lustig gemacht und sich darüber empört, wie die SS gegen verwundete Polen vorgegangen war.

Statt sein Physikum zu machen, verbrachte er ein halbes Jahr in Einzelhaft im Polizei-Gefängnis von Lübeck. Für ihn persönlich bedeutete diese Zeit eine Wende: "Ich hatte nur die Zelle, nichts zu schreiben, nichts zu lesen, keinen Besuch", erinnert er sich. In diesen Monaten der Angst entdeckte er seinenGlauben. Er verbrachte die Zeit mit Beten und Meditieren.

Als einer der Angeklagten im so genannten Lübecker Christenprozess hatte Pfürtner Glück. Sein Kompaniechef setzte sich vor Gericht für ihn ein und sagte aus, dass der junge Mann ein guter Deutscher sei. Er kam mit einer Gefängnisstrafe, einem Studienverbot und "Frontbewährung" davon. Die drei katholischen Geistlichen des Gesprächskreises wurden wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Gemeinsam mit einem evangelischen Pfarrer wurden sie hingerichtet: "Das Regime war eine Mörderbande", sagt Pfürtner.

Nur ein Jahr später während eines Fronturlaubs bat ihn ein befreundeter Geistlicher, eine seiner Sekretärinnen zu besuchen, die ins KZ Stutthof deportiert worden war. Gerda Gottschalk war zum katholischen Glauben übergetreten, galt den Nazis aber als Halbjüdin. Als er sie in dem Bauernhof an der Ostsee traf, baten ihn die Frauen inständig darum, ihnen bei der Flucht zu helfen.

Der Familienrat befürwortete das Unternehmen, in das auch die Bäuerin eingeweiht war. Pfürtner organisierte es. Gerda Gottschalk versteckte sich vier Monate lang in seinem Elternhaus und floh dann gemeinsam mit seiner Mutter nach Kopenhagen. Später hat sie viele Jahre als Sekretärin in der juristischen Fakultät der Uni Konstanz gearbeitet.

Stephan Pfürtner selbst trat nach den Erfahrungen der NS-Zeit in den Dominikanerorden ein, dem er fast 30 Jahre lang angehörte. Doch auch als Priester blieb er streitbar. Als Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie der Universität Fribourg in der Schweiz setzte er sich 1972 für einen "Vorraum der Ehe", Homosexuelle und empfängnisverhütende Mittel ein. Er geriet so massiv in Konflikt mit der römischen Glaubenskongregation, dass er selbst demissionierte und aus dem Orden austrat. 1974 heiratete er die Ärztin Irmgard Bloos, mit der er zwei Kinder hat. Als "großen Glücksfall" bezeichnet er seinen Wechsel an die Universität Marburg, an der er von 1975 bis 1988 lehrte – allerdings am Fachbereich Evangelische Theologie: "Ich hätte an keiner katholischen Hochschule auf der Welt mehr eine Stelle bekommen."

Um die hohe Ehrung des Staates Israel hat sich Pfürtner nicht bemüht. Gleichwohl freut er sich, dass in der Allee der Gerechten ein Bäumchen für ihn gepflanzt wird. Selbst nach Israel reisen kann der geistig hellwache 84-Jährige aber nicht mehr.

Gesa Coordes

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