Express Online: Thema der Woche | 20. Dezember 2007

Globale soziale Gerechtigkeit ist möglich

Die globalen Entwicklungen der Gegenwart zeichnen sich durch drängende Probleme weltweiter Armut, Umweltzerstörung und größer werdender Konflikt- und Krisenpotenziale aus. Die Marburger Schriftstellerin Eva Finkenstädt hat über diese Probleme nachgedacht und ein Buch mit dem Titel "Weibliche Solidarität Weltweit" veröffentlicht. Darin setzt sie sich kritisch mit Entwicklungshilfemodellen auseinander und fordert eine globale und soziale Gerechtigkeit ein. Im Interview nimmt Eva Finkenstädt Stellung zu ihren Thesen.

Express: Als gelernte Schriftsetzerin haben Sie Religionswissenschaften, Geschichte und Literatur studiert und einen historischen Roman veröffentlicht. Heute arbeiten Sie als Lektorin. Aus welcher Perspektive haben sie die Grundgedanken ihres Buches entwickelt?
Finkenstädt: Aus der geschichtlichen Perspektive. Ein Blick in unsere eigene Geschichte zeigt uns, wie ein liberaler Kapitalismus auf eine Gesellschaft wirkt, die darauf nicht im Mindesten vorbereitet ist. In Deutschland hatten wir im 19. Jahrhundert nach dem Sieg des Kapitalismus über das alte Feudalsystem Massenarbeitslosigkeit, Verelendung und den Hungertod hunderttausender von Menschen. Die alten sozialen Systeme von Zünften und Großfamilien waren zusammengebrochen, und nichts war an ihre Stelle getreten.

Express: Was zur Folge hatte?
Finkenstädt: Dass über viele Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinweg viele tausend Menschen jährlich aus Deutschland fliehen mussten, weil sie hier keine Zukunftsperspektiven mehr sahen. Heute stranden mehr als 100 000 Hungerflüchtlinge im Jahr an den Küsten des Mittelmeers oder sterben auf der Flucht bei dem Versuch, ihrem Elend zu entfliehen.

Express: Konservative Politiker bezeichnen diese Menschen als Wirtschaftsflüchtlinge.
Finkenstädt: Das ist kurzsichtig und menschenverachtend gedacht. Tatsache ist, dass 846 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Sie sind jederzeit bereit – oder besser gesagt, gezwungen –, für den geringsten Hungerlohn jede Art von Arbeit anzunehmen. Sie sitzen weiteren Millionen von Menschen im Nacken, die bereits am alleräußersten Rand des Existenzminimums schuften und nichts dagegen tun können, wenn ihre Löhne sinken.

Express: Mit welchen Konsequenzen?
Finkenstädt: Sobald der erste Arbeitgeber diese Situation ausnutzt, müssen alle anderen nachziehen, wenn sie noch konkurrenzfähig bleiben wollen. Den Standort Deutschland wird sich bald keiner mehr leisten können. Egal, welche Regierung uns Wirtschaftswachstum verspricht und welche Konzepte dafür ausprobiert werden. Dass die Konkurrenz billiger produziert, dagegen kommt kein Regierungsprogramm an. Dass immer mehr Menschen in Deutschland keine Soziale Gerechtigkeit mehr für möglich halten, verwundert mich nicht.

Express: Was machen die deutschen Politiker falsch?
Finkenstädt: Alles mögliche wird subventioniert und zerstört dann, wie z.B. die hochsubventionierten Agrarprodukte aus der EU in Afrika, die regionalen Märkte. Unternehmer kriegen Steuervergünstigungen, die sie aber dazu nutzen, weitere Arbeitsplätze abzubauen. An den Lohnnebenkosten wird rumgebastelt, die Reallöhne stagnieren, die Arbeitszeiten werden ohne Lohnausgleich verlängert, der Kündigungsschutzwird zunehmend aufgeweicht und Zuschläge sollen versteuert werden. Die Zeche zahlen die Arbeitnehmer.

Express: Gerechtfertigt wird dieser Sozialabbau mit einer besseren Ausgangsposition – und Standortsicherung Deutschlands im globalen Konkurrenzkampf. Welche Alternative bietet sich stattdessen ihrer Meinung nach an?
Finkenstädt: Wohlmeinende Menschen haben in geschichtlich vergleichbaren Situationen das getan, was heute wohlmeinende Menschen weltweit tun. Sie geben Almosen. Etwas geändert am sozialen Elend von Menschen haben zumeist Sozialversicherungen. Wo es sie gab, haben sie auch die Wirtschaft deutlich angekurbelt. Wirkliche Besserung gegen soziale Verelendung haben zwei Handlungsmodelle gebracht. Zum einen die Organisation der Arbeiter und ihre Solidarität untereinander und mit Schwächeren. Vor allem aber das System der Sozialversicherungen, das zu einer gerechteren Umverteilung von vorhandenen Überlebensressourcen führte.

Express: Welche Alternativen haben die Menschen in den armen Ländern?
Finkenstädt: Wenn wir eine gerechte Globalisierung wollen, dann dürfen wir den liberalen Kapitalismus nicht in seiner unmenschlichsten, ungerechtesten Form exportieren, sondern wir müssen Gewerkschaften und Sozialversicherungen mitliefern. Die Menschen in den armen Ländern müssen zunächst ein gesichertes Existenzminimum bekommen. Ich denke dabei an eine Art Hungerversicherung. Wenn hungrige Menschen zu essen haben dann sind sie nicht mehr zwangsläufig erpressbar und können ihr Leben etwas mehr aus eigener Kraft meistern.

Express: Was ist dabei zu bedenken?
Finkenstädt: Es gibt ein natürliches Widerstreben dagegen, jungen, gesunden, arbeitsfähigen Menschen das Geld für ihren Lebensunterhalt in die Hand zu drücken. Dafür ist es sehr beliebt, Kinder zu unterstützen. Nicht, dass ich jemanden ausreden möchte, Kinder zu unterstützen. Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir das fördern, was wir unterstützen. Wer Kinder sponsert, der fördert das Bevölkerungswachstum. Und bisher ist weltweit die Zahl der Menschen immer wieder allen Bemühungen, sie zu ernähren, davongelaufen.

Express: Wie erklären Sie das?
Finkenstädt: Einer der Hauptgründe für die vielen Kinder der Hungernden ist die Angst der Mütter vor Alter und Krankheit. Nehmen wir ihnen diese Angst, indem wir zunächst Alte und Kranke unterstützen! Frauen ohne Kinder sind in vielen Ländern die Allerletzten auf der sozialen und ökonomischen Leiter. Wenn wir hier mit unserer Unterstützung anfangen, können wir mit dem kleinsten Einsatz den größtmöglichen Effekt erzielen.

Express: Können Sie Beispiele nennen?
Finkenstädt: Die Schwellenländer in Asien haben es deutlich gezeigt: Sobald der ärgste ökonomische Druck von den Menschen genommen ist, sinken die Geburtenraten deutlich. Überall da, wo Frauen auch nur den kleinsten ökonomischen Spielraum haben, um über ihr Leben selbst zu bestimmen, sinken die Geburtenraten. Wo Frauen eigenes Geld in die Hände kriegen, da steigt auch ihr Ansehen. Sie müssen sich nicht mehr nur über ihre Kinder definieren, und sie haben ihre eigene, unabhängige Zukunft.

Express: Wie funktioniert solch eine Hungerrente?
Finkenstädt: Weltweite Hungerrenten wären gar nicht so teuer. Ich spende monatlich 30 Euro an eine Organisation, die Witwenrenten an hungernde indische Frauen vergibt. Diese Frauen bekommen umgerechnet 69 Euro – im Jahr, das sind keine sechs Euro monatlich! Das reicht für eine einfache vegetarische Mahlzeit am Tag, und das gilt in Indien als das Existenzminimum. Über die Hälfte der Hungernden sind Kinder, viele Säuglinge und Kleinkinder darunter. Für die rechne ich mal pauschal den halben Satz. Und dann komme ich auf 45 Milliarden Euro jährlich, mit denen man allen Hungernden der Welt eine Art Sozialhilfe zahlen könnte.

Express: Wie kann das finanziert werden?
Finkenstädt: Wenn die führenden Wirtschaftsnationen der Welt zusammenlegen, dann kann diese weltweite Sozialhilfe geschultert werden. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren und müssen handeln. Wenn z.B. die jüngsten Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung in Afrika zutreffen, dann liegt eine humanitäre Katastrophe vor uns, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat.

Infos unter: www.w-soli-w.de. Von jedem verkauften Exemplar des Buches "Weibliche Solidarität Weltweit" wird eine Witwe in Indien eine Woche lang leben können. Spenden an: Amrita e.V., Königswinter, VR-Bank Neuwied. BLZ 574 601 17, Konto 520 50 80 oder HelpAge: Sparkasse Osnabrück, BLZ 265 501 05, Konto 55517

Interview: Thomas Gebauer

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