Express Online: Thema der Woche | 20. November 2008

Pionier für geistig behinderte Menschen

Vor 50 Jahren gründete der Holländer Tom Mutters die Lebenshilfe

Das Elend in der Heil- und Pflegeanstalt Goddelau in der Nachkriegszeit war der Auslöser für die Gründung der Lebenshilfe. Der heute 91-jährige Niederländer Tom Mutters erinnert sich an die Worte des stellvertretenden Anstaltsdirektors: "Kümmern Sie sich nicht um diese Kinder", sagte der: "Sie sind zwar Pädagoge, aber auch sie können aus diesen Idioten keine Professoren machen."

1949 war Tom Mutters eigentlich als Beauftragter im Kindersuchdienst der UN-Flüchtlingsorganisation in Deutschland. Der Volksschullehrer aus Amsterdam sollte sich um die geistig behinderten Kinder kümmern, deren Eltern verschleppt, ausgewandert oder ermordet worden waren. Die Zustände im südhessischen Goddelau schockierten ihn. Psychisch kranke und geistigbehinderte Kinder waren in nur zwei Sälen zusammengepfercht. Das Gebäude mit den vergitterten Fenstern sah aus wie ein Gefängnis. "Der Gestank war unbeschreiblich", sagt Mutters. Aus seiner Heimat wusste er, dass man mit Behinderten auch anders umgehen kann. Er beschaffte Geld, um Betten, Kleidung und Spielzeug kaufen zu können: "Ich fand, dass man ihnen helfen muss."

Eigentlich hatte er damals nur einige Monate in Deutschland bleiben wollen. Doch er lernte seine Frau Ursula kennen, die bald als Lehrerin in Marburg arbeitete. Ratlose und verzweifelte Eltern von behinderten Kindern wandten sich an ihn. Als Reaktion auf die Vernichtung angeblich "unwerten Lebens" versteckten viele ihre Kinder. Mutters machte ihnen Mut, für ein besseres Leben ihrer behinderten Kinder zu kämpfen.

Ein Kreis von 15 Menschen legte schließlich den Grundstein für die heutige Bundesvereinigung Lebenshilfe. Am 23. November 1958 wurde der Verein zur Förderung geistig behinderter Menschen in Marburg gegründet. 30 Jahre lang – bis zu seinem 71. Lebensjahr – blieb Mutters Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe. Am kommenden Wochenende feiert die Vereinigung ihr 50-jähriges Jubiläum. Die Festrede wird Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt halten.

Als Mutters die Lebenshilfe gründete, gab es in Deutschland so gut wie keine Hilfen für Kinder mit geistiger Behinderung. Sie galten als bildungsunfähig und gingen noch nicht einmal zur Schule. Mit großem Engagement warb der Holländer in ganz Deutschland für seine Ideen. Die Lebenshilfe baute Kindergärten, Schulen und Wohnstätten. In Werkstätten arbeiteten die Schützlinge für die Industrie, flochten Körbe und banden Besen: "Arbeit ist für jeden Menschen sehr wichtig", erklärt Mutters. In den 80er Jahren wurden die Ideen von einer weitgehenderen Integration entwickelt. Kinder mit geistiger Behinderung sollten in normale Kindergärten und Schulen aufgenommen werden. "Wir brauchen eine Schule für alle", sagt Mutters.

Bis 1988 blieb der mitreißende Pädagoge Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe. Heute hat die Selbsthilfevereinigung 135000 Mitglieder und 60 000 Mitarbeiter. In einem Netz von 3200 Kindergärten, Schulen, Werkstätten, Beratungsstellen, Frühförderstellen, Wohnheimen und ambulanten Diensten begleiten sie 170 000 behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Noch als Rentner reiste der sprachgewandte Holländer nach Russland, Saudi-Arabien und in die Ukraine, wo Lebenshilfe-Einrichtungen nach deutschem Vorbild geschaffen wurden: "Ich war der Ideengeber", sagt Mutters, der seit 50 Jahren mit seiner Frau in Marburg-Wehrshausen wohnt.

Unterdessen hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe ausgerechnet im Jubiläumsjahr etwa ein Drittel der 69 Stellen am Gründungssitz abgebaut. Weitere Arbeitsplätze werden im kommenden Jahr nach Berlin verlagert, wo die Organisation ihre Präsenz verstärken will. Gründer Tom Mutters geht davon aus, dass auch der Hauptsitz irgendwann Berlin sein wird.

Gesa Coordes

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