Express Online: Thema der Woche | 11. Dezember 2008

Tod am Nikolaustag

Initiative Fliegerschicksale sucht nach abgestürzten Flugzeugen und ihren Piloten

6. Dezember 1944: Es ist der Tag, an dem mehr als 200 britische Bomber den Stadtkern von Gießen fast vollständig in Schutt und Asche legen. Das Flugzeug vom Typ Lancaster hat seine tödliche Fracht bereits abgeworfen, als es von deutschen Nachtjägern getroffen wird. Über dem schneebedeckten Schiffenberger Wald stürzt das Flugzeug ab. Von der siebenköpfigen Besatzung, sechs Australier und ein Engländer, werden nur drei geborgen.

60 Jahre später wird das Wrack der wohl größte "Fall" für die mittelhessische Initiative "Fliegerschicksale". Monatelang haben die Hobby-Historiker Jörg Merlau, Frank Häuser, Andreas Dort und Mirko Mank die große Lichtung mit Harke, Schippe, Sieb und Metalldetektor durchkämmt. Das Problem: Die Maschine ist fast vollständig zersplittert. Trotzdem entdecken sie neben den Trümmern Dinge, die sie anrühren – eine alte Uhr, eine völlig demolierte Trillerpfeife, ein Talisman, der einen kleinen Widder zeigt, und die Reste der "Nikolausration" der Piloten: Unter den Instrumenten des Cockpits finden sie Walnuss- und Haselnussschalen. Dazu gehörten gewiss noch Süßigkeiten, die die Piloten am Nikolaustag vor 64 Jahren gegessen haben, sagt Jörg Merlau.

Die Initiative Fliegerschicksale verbringt seit vielen Jahren jede freie Minute damit, nach abgestürzten Flugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg in Mittelhessen zu suchen. Ursprünglich begannen sie ihr Hobby aus einer Begeisterung für Technik heraus. Doch inzwischen geht es ihnen vor allem darum, Vermisstenfälle zu klären: "Sie sollen ihr Gesicht wieder bekommen", sagt Frank Häuser, der sonst in Gießen als Polizist arbeitet. Allein in Landkreisen Gießen und Marburg stürzten während des Zweiten Weltkrieges 260 Flugzeuge ab. Bundesweit werden immer noch 1600 deutsche Piloten vermisst. Die meisten waren jünger als wir, erzählen die Männer. Seit 1995 haben sie die Überreste von sieben Flugzeugen und sieben Piloten geborgen, Darunter war auch ein deutscher Nachtjäger, der am Nikolaustag 1944 bei Niederweimar abgeschossen wurde. Unterschiede bei den Nationalitäten macht die Initiative bei ihrer Suche nicht.

In Schiffenberger Wald entdeckten sie die Überreste von vier Australiern – 320 Knochenfragmente. Identifizieren können sie die Piloten mit Hilfe der Erkennungsmarke, die Jörg Merlau völlig verdreckt in der Erde findet. Auf der Messingplakette steht der Name von Joslyn Henderson, damals gerade 20 Jahre alt. Mit Rückendeckung der australischen Botschaft recherchieren sie nach Familienangehörigen. Zehn Verwandte der Piloten fliegen um die halbe Welt, um ihrem Bruder, Onkel oder Verlobten am 13. September 2005 auf dem britischen Militärfriedhof in Hannover die letzte Ehre zu geben. Die Hobbyhistoriker zeigen den Australiern die Absturzstelle. "Das war sehr ergreifend", sagt Andreas Dort: "Jetzt können sie endlich abschließen."

Die Gruppe legt Wert darauf, "keine Nacht- und Nebelaktionen" zu machen. Wenn sie nach Flugzeugteilen graben, holen sie nicht nur die Genehmigung des Bundes ein. Auch Mitarbeiter des Technisches Hilfswerks, des Kampfmittelräumdienstes, der Kriegsgräberfürsorge und mitunter sogar eine Forensikerin sind dabei.

Doch bis es so weit kommt, hat die Initiative eine mühselige Puzzlearbeit hinter sich. Um die mutmaßlichen Absturzstellen zu finden, stöbern sie in Staats-, Gemeinde- und Militärarchiven, lesen Abschuss- und Polizeiberichte und befragen Augenzeugen. So brauchten sie ein Jahr, um Oberfeldwebel Werner Radant aus der Uckermünde aufzuspüren, der am 25. April 1944 mit einem deutschen Jagdflugzeug auf einer Wiese bei Staufenberg-Treis abstürzte. In vier Meter Tiefe entdeckten die Experten das Wrack, Knochen und seine Stiefel. Der damals 28-Jährige war auf dem Heimflug zu seiner Einheit nach Dortmund, als seine Maschine wegen eines technischen Defekts in Brand geriet. Vier Wochen später wollte der junge Mann heiraten, das Brautkleid war schon gekauft. Fast 63 Jahre nach seinem Tod wurde er auf dem Kriegsgräberfriedhof von Kloster Arnsberg beerdigt.

Der Motorblock mit Zylinder und Propellergetriebe steht heute im 1. Hessischen Flugzeug-Wrack-Museum in Ebsdorf bei Marburg. In einer ehemaligen KFZ-Werkstatt hat das Quartett eine Präsentation aufgebaut, die ihre Tore bislang nur auf Anfrage öffnet. Der Aufbau des Museums ist das nächste große Projekt der Initiative. Schon jetzt sind Motorteile, Propeller, Pilotenhauben, Bombenkisten, Sauerstoffschläuche, Ohrmuscheln, Fallschirmschnallen und Tanks zu sehen, aus denen die Kinder nach dem Krieg Boote bauten. Wenn alles gut geht, soll das Museum im Frühjahr eröffnet werden.

Weitere Informationen: 0173-3406804, andreas.dort[at]yahoo.de

Gesa Coordes

Archiv 2008 Archiv 2007 Archiv 2006 Archiv 2005 Archiv 2004


Copyright © 2008 by Marbuch Verlag GmbH