Express Online: Thema der Woche | 29. Januar 2009

Keine Blindgänger

Was beim Sehen fehlt: Zu Besuch in einer Sehbehinderten-WG

Die Gymnasiastin Gabi Eichenseer (20) ist blind. Aber die sauren Gurken schnippelt sie in einem Tempo, das Sehenden in nichts nachsteht. Auch die Eier sind erstaunlich schnell gepellt. "Ich backe gern Kuchen", erzählt Gabi Eichenseer, während sie das Abendessen vorbereitet: "Er sieht dann nicht so aus wie bei Sehenden, aber er schmeckt." Und am Ofen verbrennt sie sich schon lange nicht mehr.

Heute gibt es in der Wohngemeinschaft Lahnstraße der Marburger Blindenstudienanstalt (Blista) Kartoffelsalat mit Würstchen. Die sehbehinderte Ricarda Ramünke (18) schält die Erdäpfel – langsam und sorgfältig. Zwischendurch stellt sie die Wäsche an. An der Waschmaschine orientiert sie sich mit Hilfe von tastbaren Punkten.

Die Wohngemeinschaften sind fester Bestandteil des Konzepts der Marburger Blindenstudienanstalt. "Man muss die lebenspraktischen Fähigkeiten tagtäglich anwenden", erklärt der Direktor der Blindenstudienanstalt, Claus Duncker: "Wenn man sich bei jedem Mittagessen bekleckert, kriegt man keinen Job. Da nützt die beste Ausbildung nichts." Die 280 Schüler leben fast alle in den mehr als 40 über die ganze Stadt verteilten Wohngemeinschaften. Das älteste Blindengymnasium Deutschlands ist damit bis heute Vorreiter. "Als wir die WGs vor 30 Jahren einführten, wollten wir kein Ghetto", sagt Blista-Sprecher Rudi Ullrich, der damals Schulsprecher war: "Wir wollten Nachbarn, einen Schulweg und einkaufen gehen."

Zwei Kilometer laufen Gabi und Ricarda, bis sie in der Schule am Schlag 6 ankommen. Eine gelbe Armbinde zu tragen, käme ihnen nicht in den Sinn. "Das ist diskriminierend", finden die Oberstufenschülerinnen. Sie sind so flott unterwegs, dass niemand auf die Idee kommt, ihnen über die Straße zu helfen. Schon zu Beginn ihrer Marburger Schulzeit haben sie mit einem Mobilitätstrainer systematisch gelernt, sich blind zurecht zu finden. Mit dem weißen Langstock ertasten sie fühlbare Markierungen auf den Straßen. Mit Hilfe von Geräuschen orientieren sie sich auf dem Weg zum Bus, zu Freunden und im Supermarkt. Nur die große Kreuzung vor dem Bahnhof ist ihnen Gräuel: Zwei Verkehrsinseln und der Lärm der darüber verlaufenden Stadtautobahn fordert die ganze Konzentration. Gehandicapt sind sie auch bei dickem Schnee. Die weiße Pracht schluckt die Geräusche, an denen sich die Schüler sonst orientieren.

Dank der Blindenstudienanstalt gibt es allerdings kaum eine weitere deutsche Stadt, die so gut auf die Bedürfnisse der Blinden eingestellt ist wie Marburg. Alle Ampeln haben akustische Signale. Es gibt Blinden-Stadtpläne, Einkaufshilfen, sprechende Geldautomaten, sprechende Aufzüge und viele Restaurants mit Speisekarten in Punktschrift. Nirgendwo in Deutschland leben – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – so viele Blinde wie in Marburg

Seit 92 Jahren steht die Schule am Marburger Grassenberg. Es handelt sich um das einzige Blindengymnasium Deutschlands, das schon in Klasse 5 beginnt. Die 280 Schüler kommen aus ganz Deutschland. Die meisten teilen die Erfahrung, dass eine Integration in normalen Gymnasien oft nicht funktioniert. Vergrößerte Kopien und Blindenschrift-Bücher fehlen fast überall. Solche Unterlagen sind an der Blindenstudienanstalt so selbstverständlich, dass sie kaum erwähnt werden.

Aus den Klassenzimmern ertönt das Klappern der Blindenschreibmaschinen. Spätestens ab Klasse 7 hat jeder Schüler einen eigenen Laptop vor sich. Was beim Sehen fehlt, wird fast immer durch eigenes Fühlen, Hören oder Riechen ersetzt. Wie die Welt aussieht, können die Schüler an modellierten Globussen ertasten. Es gibt Modelle, um Erdbeben zu verstehen, Menschenfiguren zum Auseinandernehmen und Moleküle zum Zusammenstecken.

Im Unterricht verstecken kann man sich nicht, sagt Schülerin Gabi Eichenseer. Die Klassen sind nämlich außergewöhnlich klein: Sechs bis 13 Schüler sind die Regel. Da kommt jeder im Unterricht zu Wort. Die Schulgebühren zahlen die Sozialhilfeträger.

An dem Gymnasium können die Schüler vieles ausprobieren, das andernorts undenkbar ist. Von den Jugendlichen machen 95 Prozent Leistungssport. Sie lernen Reiten, Schwimmen, Radfahren, Rudern und Judo. Drei Stunden Sportunterricht pro Woche sind Pflicht. Es gibt 25 verschiedene Arbeitsgemeinschaften. Selbst Theater spielen viele Schüler. "Nachtsicht" heißt die Gruppe, die regelmäßig in Marburg auftritt. Gabi Eichenseer hat im vergangenen Schuljahr einen Surfschein gemacht. Sie kann zwar nur aufs Brett, wenn ein Sehender neben ihr surft, aber toll fand sie die Erfahrung schon. Ricarda Ramünke mag das Skilaufen am liebsten: "Es macht Spaß, den Berg hinabzusausen", sagt die 18-Jährige.

In den Wohngemeinschaften in der Nähe der Blindenstudienanstalt wohnen die jüngeren Schüler, die noch rund um die Uhr betreut werden. Anfangs sind es die Erzieher, die den Haushalt organisieren. In die Fünfer-WG von Gabi und Ricarda kommt Betreuerin Edeltraud Niehoff nur noch zweimal in der Woche. Das Haushaltsgeld verwalten die jungen Frauen selbst. Einkaufen, Müll heruntertragen und Staub saugen – das organisieren sie ebenfalls selbst. So selbstverständlich klappt das aber nicht bei jeder WG, weiß Niehoff. An der Blindenstudienanstalt wird das selbstständige Leben aber systematisch gelehrt. Wer die Blista verlässt, kann deshalb in der Regel auch kochen – allemal die einfachen Nudelgerichte.

Ricarda Ramünke hat fürs Abendessen eingekauft. Im nahe gelegenen Supermarkt weiß sie genau, wo Würstchen, Gurken, Milch und Eier zu finden sind. Nur vor den Joghurts musste sie kapitulieren. In welchem Becher Erdbeeren und in welchem Bananen zu finden sind, ließ sie sich von einer Verkäuferin sagen. Nach dem Essen wischt Gabi Eichenseer den Tisch im Schachbrettmuster – erst längs, dann quer. Nur dort zu putzen, wo gerade etwas schmutzig geworden ist, geht leider nicht.

Gesa Coordes

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