Express Online: Thema der Woche | 5. Februar 2009

Nach 16 Jahren der erste Job

Die armenische Mathematikerin Nellie Torosjan arbeitet als Hausaufgabenbetreuerin

Dass es so schwer sein könnte, in Deutschland Arbeit zu finden, hätte Nellie Torosjan nie gedacht. Die heute 50-jährige Diplom-Mathematikerin war in ihrer Heimat in Armenien beruflich sehr erfolgreich. Gleich mehrfach wechselte sie die Firma, weil sie bessere Angebote bekam. Bis zur Büroleiterin in der Zentralbank Armeniens und im Arbeitsministerium brachte sie es. Doch 1992 floh sie vor dem Krieg in dem Bergstaat, um sich und ihr bald darauf geborenes Kind zu retten. Dennoch wurde sie als Asylbewerberin nicht anerkannt. Dabei versichert sie: "Man muss schon sehr verzweifelt sein, um alles aufzugeben." Schließlich konnte die damals Schwangere kein Wort deutsch und kannte niemanden in der neuen Heimat. Und das Baby als Alleinerziehende in einem Asylbewerberheim in der Nähe von Marburg zu versorgen, war äußerst schwierig.

Nellie Torosjan hatte allerdings angenommen, dass sie nach der Anfangsphase durchaus wieder arbeiten könnte. Als sie besser deutsch konnte und die Tochter in die Schule kam, fand sie auch eine Stelle: Als Nachhilfelehrerin für Mathematik hätte sie bei einer Nachhilfeschule anfangen können. Doch das Arbeitsamt verweigerte ihr den Posten, weil der Job theoretisch auch von einem Deutschen ausgefüllt werden konnte. Der fand sich dann zwar gar nicht, doch Torosjan erhielt die Stelle trotzdem nicht.

Irgendwann suchte sie auch abseits ihrer Qualifikationen nach Jobs. Sie bewarb sich als Arbeiterin, als Küchenhilfe, bei Leiharbeitsfirmen und in der Pflege. Doch die Unternehmen wollten junge Leute. Zudem galt sie als überqualifiziert. Dass sie nicht ganz aufgab, hat sie wohl ihrem Humor zu verdanken. "Ich habe alles getan, um einen Job zu bekommen", sagt die Mathematikerin.

Doch erst seit dem neuen Zuwanderungsgesetz, das ihr 2008 eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe brachte, hat sie eine realistische Chance.

Zu ihren neuen Job kam sie durch einen Zufall. Sie half ihrer Tochter – sie besucht inzwischen die 9. Klasse – beim Üben auf die Mathearbeit. Und die 15-Jährige, die ihre Mutter sonst eher mit den kritischen Augen einer Jugendlichen betrachtet, fand, dass sie gut erklären könne. "Warum gibst du nicht Nachhilfe in unserer Schule?", fragte sie. Anfang Dezember stellte sich Nellie Torosjan in der Marburger Theodor-Heuss-Schule vor und erhielt noch am gleichen Tag einen Arbeitsvertrag als Hausaufgabenbetreuerin. "Ich war völlig platt und begeistert", erzählt die 50-Jährige.

Zweimal in der Woche hilft sie den Schülern nun bei den Hausaufgaben – nur bei den Englischaufgaben muss sie passen. Viel verdient sie durch den Job nicht. Aber sie hofft, irgendwann einmal auch als Vertretungslehrerin für Mathematik arbeiten zu können.

Damit hat die Armenierin Glück gehabt, meint Rainer Dolle, Vorsitzender des mittelhessischen Bildungsverbandes, der sich um die berufliche Integration von Flüchtlingen kümmert. Er weiß von Universitätsprofessoren und Professorinnen, die heute als Hilfsarbeiter, Köche, Taxifahrer oder Putzfrauen arbeiten: "Das sind tragische Schicksale, die gar nicht so selten sind, wie man glaubt."

Chance für Flüchtlinge

Bleib in Mittelhessen" lautet der Titel des ersten hessischen Beratungsnetzwerks, das auch Nellie Torosjan unterstützt. Gegründet wurde es von Kreisen, Kommunen und Beschäftigungsgesellschaften aus der Region. Es wendet sich an die rund 1000 Flüchtlinge und Bleibeberechtigten in Mittelhessen.

Ziel ist die berufliche Integration der Flüchtlinge. Das Projekt knüpft Kontakte zu Betrieben und hilft mit Beratungen, Seminaren und Deutschkursen. Koordiniert wird es vom Mittelhessischen Bildungsverband. Hintergrund der Initiative ist das neue Zuwanderungsgesetz.

Gesa Coordes

Archiv 2009 >> 2008 >> 2007 >> 2006 >> 2005 >> 2004 >>


Copyright © 2009 by Marbuch Verlag GmbH