Express Online: Thema der Woche | 19. Februar 2009

Die andere Perspektive

Der Rollstuhl-Globetrotter Andreas Pröve beim "1. Gießener Abenteuer-Tag" am Sonntag 15.2. in der Gießener Kongresshalle

Seit er als 23-Jähriger mit dem Motorrad verunglückte, ist Andreas Pröve, Jg. 1957, querschnittsgelähmt. Bereits drei Jahre nach seinem folgenschweren Unfall war er mit dem Rollstuhl in Indien unterwegs. Auf seitdem 20 Reisen durch den indischen Subkontinent, den Vorderen Orient und Persien entstanden die Diavorträge des Fotojournalisten und Buchautors. Bei "Abenteuer Ganges" erzählt Pröve, wie er allein durch Muskelkraft mit dem Rollstuhl von der Mündung des heiligen Flusses bis zu seiner Quelle im Himalaya gelangte.

Express: Herr Pröve, was ist das für ein Gefühl, mit dem Rollstuhl im Verkehrstrubel der Millionenmetropole Kalkutta unterwegs zu sein?
Andreas Pröve: Kurz gesagt, wie ein Tropfen im Ganges. Tatsächlich war es oft nicht meine Entscheidung, in welche Richtung es nun gehen sollte, sondern die des Verkehrsstroms. Dazu kommt, dass in Indien Linksverkehr herrscht. Ich musste in vielerlei Hinsicht umdenken und das, was ich in unserer Fahrschule gelernt hatte, über den Haufen werfen. Der Verkehr auf Kalkuttas Straßen folgt einer eigenen Gesetzmäßigkeit, wo jeder auf den anderen achtet und Verkehrsregeln und -Schilder eher eine untergeordnete Rolle spielen. Die Gefahr, dass ich bei meiner Kopfhöhe von nur 110 cm schnell übersehen werde ist extrem hoch.

Express: Es gibt Situationen, bei denen der Rollstuhl an seine technischen Grenzen gerät. Wie kommen Sie dann weiter?
Andreas Pröve: Auf meiner Tour entlang des Ganges hatte ich immer wieder technische Probleme. Für solche Belastungen ist kein Rollstuhl gebaut. Gebrochene Speichen waren an der Tagesordnung. Aber auch Rahmenbrüche gab es. Wenn einem der Rolli unterm Hintern zusammenbricht, das ist ein ziemlich blödes Gefühl, so als sei man auf einem sinkenden Schiff. Oft war es unmöglich auch nur einen Meter weiter zu fahren. Da half nur noch Daumen raushalten. Auf den Ladeflächen von Ochsenkarren bin ich dann weiter gekommen, bis zur nächsten Werkstatt. Aber in solchen Situationen lernt man nicht nur das Land gut kennen, sondern auch sich selbst.

Express: Wie reagieren die Menschen vor Ort auf Ihr Handicap?
Andreas Pröve: In den ländlichen Gegenden Indiens bin ich es gewohnt, dass neugierige Passanten mich bestaunen und ich von einem Pulk umringt werde. Wenn Außenstehende dann nicht mehr sehen können, worum es geht, bilden sich oft riesige Menschentrauben. Es gibt Verkehrsunfälle, weil sich vorbeifahrende Fahrzeuglenker zu lange nach mir umsehen. Viele Menschen realisieren es nicht, dass ich nicht laufen kann und oft wurde mir gesagt, dass es ja eine tolle Idee sei, im Sitzen zu reisen. Wenn ich die Situation kläre erfahre ich bei den meisten Indern viel Anteilnahme und großen Respekt vor der Leistung.

Express: Gab es auf der Reise den Ganges hinauf Momente, bei denen Sie ans Aufgeben dachten?
Andreas Pröve: Ja mehrmals. Selbst einen Tag vor dem Ziel wollte ich aufgeben, weil ich mein Leben in Gefahr sah. Der Weg zur Gangesquelle in 4200 Metern Höhe war noch verschüttet und ich musste von meinen Sherpas immer wieder auf den Rücken geschnallt werden, um Gletscher oder Murenabgänge zu überqueren. Manchmal habe ich direkt in über 100 Meter tiefe Schluchten geblickt und das einzige, was ich zu meiner eigenen Sicherheit tun konnte war, mich am Hals von Sherpa Prabhu, auf dessen Rücken ich geschnallt wurde, festzuhalten. Ich legte mein Schicksal vollkommen in die Kunst der Sherpas.

Express: Sind Sie alleine unterwegs oder entstehen Ihre Touren in Team?
Andreas Pröve: Ich komme mit mir selbst ganz gut aus. Tatsächlich bin ich 20 Jahre allein gereist und hatte nie Probleme damit. Natürlich nur, solange ich durch Länder mit Überbevölkerung reiste, denn ich komme nicht einmal allein aus dem Flugzeug, geschweige denn in einen Bus oder in die Bahn. Ich brauche also Menschen um mich herum. Auf der Gangesreise lernte ich dann aber einen jungen Inder kennen, mit dem ich auf einer Wellenlänge lag, da stimmte sozusagen die Chemie. Wir sind damals Freunde geworden und seitdem reisen wir immer zusammen.

Express: Wo kommen Sie eigentlich unter? In Hotels, Travellerunterkünften, bei Privatleuten ... ?
Andreas Pröve: Das kommt ganz auf die Situation an. Indien ist extrem dicht besiedelt, und man findet immer etwas zum Unterkommen. Wenn es nicht anders ging, habe ich in Rasthäusern an der Straße ein Bett gefunden, das war meist ebenerdig. Toiletten gab es da natürlich nicht, aber dafür hatte ich mir vorher ein Loch in den Rolli geschnitten. Es gibt Pilgerunterkünfte, in denen man selten allein im Bett liegt. Die üblichen Begleiter wie Kakerlaken, Wanzen und Läuse musste ich dort in Kauf nehmen. Schnell aus dem Bett springen, wenn's irgendwo beißt, geht bei mir nicht. Am saubersten sind immer noch die Betten der Privatleute. Es gibt billige und saubere Hotels und einmal auf meinen 14. Indienreisen habe ich sogar in einem Maharajapalast für 500 Euro übernachtet.

Express: Sie zeigen nicht nur schöne Bilder, sondern berichten auch über Kinderarbeit oder das Überleben in den Slums der Großstädte. Bringt Ihre spezielle Art des Reisens eine größere Nähe zur Realität?
Andreas Pröve: Nein, um mit offenen Augen zu reisen und die Probleme zu erkennen, muss man nicht im Rollstuhl sitzen. Und ich glaube, dass jeder, der über ein Land wie Indien berichtet, auch eine gewisse Verpflichtung hat, dem Betrachter neben den touristischen Highlights einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren. Wie sieht denn der Alltag des Straßenjungen aus, der den Touristen im Zug zum Taj Mahal Cola verkauft, die er sich selbst nie leisten könnte? Wo schläft der Junge? Warum geht er nicht zur Schule? Was ist mit seiner Famile? Und wieviel Geld muss er an die Mafia zahlen?

Der Express verlost 3 x 2 Tageskarten für den 1. Gießener Abenteuer-Tag am Sonntag 15.2. in der Kongresshalle: Fr 13.2. 16.00, Tel. 06421/684443

Interview: Autor

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