Express Online: Thema der Woche | 9. April 2009

Riesenzigarren und sanfte Gleiter

100 Jahre
Die Ausstellung "100 Jahre Kurhessischer Verein für Luftfahrt von 1909 e.V. Marburg/Lahn" ist noch bis zum 24. April im Unteren Rathaussaal zu sehen.
Weitere Veranstaltungen im Jubiläumsjahr sind u.a. die Hessische Meisterschaft für Heißluftballone vom 21. bis 24. Mai im MR-Schönstadt mit Ballonglühen in der Marburger Innenstadt am 23.5. sowie Flugplatzfest/Flugtag am 29. und 30. August auf dem Verkehrslandeplatz Schönstadt.
Michael Arlt
Einer der ältesten deutschen Luftfahrtvereine feiert Geburtstag: Mit der Austellung "100 Jahre Kurhessischer Verein für Luftfahrt von 1909 e.V." starten die Marburger Flieger in ihr Jubiläumsjahr.

Die Cessna 182 mit Kennung Lima Tango erscheint auf der großformatigen Farbfotografie in glanzvoller Pracht. Die einmotorige Maschine markiert den Beginn einer bemerkenswerten Ausstellung im Unteren Rathaussaal. Und gleichzeitig den Endpunkt einer Entwicklung, die vor 100 Jahren begann: Luftfahrt in Marburg.

Wer heute das Afföller-Gelände betrachtet, wird es sich kaum vorstellen können. Dort im Norden Marburgs, zwischen Stadtautobahn und Lahnauen, wo in Schrebergärten Radieschen und Tomaten reifen und im G-Werk Kultur aus dem Boden gestampft wird, befand sich bis 1970 ein richtiger Flugplatz, Domizil des Kurhessischen Vereins für Luftfahrt von 1909 e.V. Hier befand sich eine der Kontrollstellen der Prinz-Heinrich-Flüge, Vorgänger der heutigen Deutschland-Rundflüge. Hier bekamen die Marburger bereits vor dem ersten Weltkrieg Spektakuläres geboten. Etwa als Oberleutnant Ludwig Schäfer mit seiner "Taube" die erste Flugzeuglandung macht. Oder mit dem Verkehrsluftschiff Viktoria Luise unter Kapitän Eckener ein knapp 150 Meter großer Gigant der Lüfte dem staunenden Lahnstädtchen am 5. Mai 1912 einen Besuch abstattet.

In unmittelbarer Nähe zur Cessna, ehedem "Flaggschiff unserer Flotte", ein bemerkenswertes Dokument, zwei faksimilierte Seiten der Oberhessischen Zeitung vom 12. Oktober 1909. Kaiser und Gemahlin treffen im Jagdhaus Hubertusstock ein, Major Groß lobt das "patriotische Werk" des Grafen Zeppelin, so die Meldungen. Und dann prangt da, viertelseitig und in schörkellos moderner Typografie, der Aufruf zur Gründung eines "Vereins für Luftschifffahrt zu Marburg". öber Annoncen zur Chor-Probe des Marburger Konzertvereins, für hochfeine Tafelbirnen und Klosettbürsten, französische Form, laden die Unterzeichneten – u.a. Bankier Bang, Buchhändler Braun, Prof. Sauerbruch, Oberbürgermeister Troje und Privatdozent Wegener – für Montag den 11. Oktober, 9 Uhr abends in die Marburger Stadtsäle, Familienzimmer.

Wohl nicht zuletzt von der Begeisterung der millionfach besuchten Internationalen Luftschifffahrt-Ausstellung ILA zu Frankfurt am Main im gleich Jahr entflammt, wollen die Gründungsväter ihren Verein den "wissenschaftlichen und sportlichen Fahrten" widmen. Zunächt im Ballon. Für "ungefähr 1500 Mark" wird in den Afföllerwiesen ein Rohr zu den benachbarten Städtischen Gaswerken gelegt, um die Luftgefährte mit dem nötigen Wasserstoff zu versorgen. Der am 8. Mai 1910 an seiner Füllstelle auf den Namen "Marburg" getaufte Ballon stellte seine Tauglichkeit bereits auf der Probefahrt vom 11.4. unter Beweis. In vier Stunden, 25 Minuten legten die Luftschiffer unter der Führung von Alfred Wegener 246 Kilometer zurück, bevor sie im sächsischen Seeligenstadt landeten.

Der spätere Theoretiker der Kontinentalverschiebung war überaus aktiver Marburger Luftschiffer. Als Wegener im November 1930 auf Expedition im grönländischen Eis ums Leben kommt, hat in Marburg freilich längst das Flugzeug Einzug gehalten. Ernst Udet, hochdekoriertes Flieger-As des ersten Weltkriegs und mittlerweile Luftakrobat, zeigt am 13. Juli 1929 seine Kapriolen vor der Silhouette von Landgrafenschloss und Elisabethkirche. In den Werkstätten des Instituts für Leibesübungen entstehen Segelflugzeuge im Eigenbau, von einer sperrholzbeplankten Klemm 25 in die Lüfte geschleppt. öber der Südstadt werden Blumen abgeworfen, über der Flughalle im Afföller weht das Hakenkreuz.

Nach dem zweiten Weltkrieg herrscht Flugverbot. Erst 1952 erlaubt die amerikanische Militärregierung die Wiederaufnahme eines bescheidenen Segelflugbetriebes. Ein schlichtes Plakat in Linoschnitt kündet vom ersten Flugtag am 28.10. des Jahres. Mit dem Umzug des Kurhessischen Vereins für Luftfahrt auf die Bernsdorfer Höhe bei Schönstadt und der ersten Flugzeuglandung auf dem neuen Flugplatz am 26.5.1970 geht die Fliegerei in Marburg zu Ende. Seit 1992 richtet der Verein, einer der ältesten deutschen Luftfahrtvereine überhaupt, an neuer Heimstätte die Wettfahrt der "Medienballone" aus und verzeichnet mit dem mehrfachen Segelflugweltmeister Wener Meuser ein prominentes Mitglied in seinen Reihen.

Die Marburger Ausstellung zeigt neben großformatigen historischen Fotografien, Urkunden, Plakaten, Protokollbüchern und Modellen als Kernstück einen restaurierten Schulgleiter SG 38 aus den fünfziger Jahren, der mit seinen 10 Metern Flügelspannweite gerade so in den Raum hineinpasst. In dieser archaischen Flugmaschine aus Holz, Leinwand und Draht, auf der Generationen von Piloten ihre ersten Luftsprünge machten, ist einiges von der ursprünglichen Faszination und der nostalgischen Färbung bewahrt, die das abgeschlossene Kapitel Stadtgeschichte "Fliegen in Marburg" in sich trägt.

Michael Arlt

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