Express Online: Thema der Woche | 21. Mai 2009

Polizei rechnet mit Ausschreitungen

Kongress für Psychotherapie und Seelsorge
Die Akademie für Psychotherapie und Seelsorge versteht sich als konfessionsübergreifende Gesprächsplattform für christliche Therapeuten und Seelsorger. Sie hat 550 Mitglieder und wird dem evangelikalen Spektrum zugerechnet.
Zu dem Kongress zum Thema "Identität" werden 1000 Teilnehmer erwartet. Es ist bereits der dritte Kongress dieser Art in Marburg. Auch bei den früheren Tagungen waren die strittigen Referenten Markus Hoffmann und Christl Ruth Vonholdt dabei. Dagegen gab es jedoch keine Proteste.
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Im Streit um den umstrittenen Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge richtet sich die Marburger Polizei auf einen Großeinsatz ein.

In den vergangenen Tagen haben bislang unbekannte Täter mehr als 40 christliche und private Häuser in der gesamten Innenstadt mit Parolen wie "Fight Homophobie" und "Stoppt den Kongress" beschmiert: "Das traf nicht nur evangelikale Einrichtungen sondern auch private Häuser", sagt Polizeisprecher Martin Ahlich. Die Polizei rechne mit Ausschreitungen.

Wir haben Angst, dass Teilnehmer bedroht und belästigt werden", sagte Dr. Dietmar Seehuber vom Vorstand der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge bei der Vorstellung des Kongresses, der am gestrigen Mittwoch begann. Dass so viel Hass in der Debatte stecke, habe die Veranstalter überrascht. Der Kongress steht seit Wochen im Kreuzfeuer der Kritik, weil drei der 120 Referenten vorgeworfen wird, Homosexuelle "heilen" zu wollen. Die hessischen Grünen schrieben daraufhin von einem "Homophobie-Kongress". Asten und Homosexuellenverbände aus ganz Deutschland meldeten Kritik an.

Das Bündnis "Kein Raum für Sexismus, Homophobie und religiösen Fundamentalismus" hat eine Demonstration für den heutigen Donnerstag angemeldet. Das Bündnis wendet sich jedoch nicht nur gegen die drei Referenten: "Wir wollen den Kongress in seiner Gesamtheit verhindern und ihn als Symbol der rechtskonservativen Meinungsmache bekämpfen", schreiben sie in ihrem Demonstrationsaufruf. Dem Bündnis haben sich mehr als 50 Gruppen angeschlossen, die überwiegend aus dem Umfeld der Hochschule stammen. Darunter ist aber auch der DGB Marburg-Biedenkopf.

Dagegen hatte sich etwa der Schwulen- und Lesbenverband darauf beschränkt, eine Ausladung der strittigen Referenten zu fordern. Darauf ließ sich der Veranstalter allerdings nicht ein. "Auf dem Kongress kommt das Thema Homosexualität nicht vor", erklärt Akademie-Vorsitzender Dr. Martin Grabe: "Auch die Referenten werden zu diesem Thema nichts sagen." Ein Runder Tisch zwischen den Veranstaltern und dem Schwulen- und Lesbenverband ging daher in freundlicher Atmosphäre, aber ohne Einigung auseinander. Beide Seiten fordern zu Gewaltfreiheit auf.

Unterdessen eskaliert der Streit um den Kongress auch in der Kommunalpolitik. CDU-Bundestagskandidat Stefan Heck fordert angesichts der Farbschmierereien einen "Runden Tisch gegen Extremismus". Der Marburger CDU-Fraktionsvorsitzende Philipp Stompfe hält den grünen Bürgermeister Franz Kahle in seinem Amt für "nicht mehr tragbar", weil er jeden Respekt vor der christlichen Kultur und den christlichen Gemeinden verloren habe. Der Grüne soll die Unterzeichner einer Erklärung "gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände" öffentlich als Hassprediger bezeichnet haben. Dies bestreitet Kahle. Allerdings bestätigt er, dass die auch von Stompfe unterzeichnete Erklärung "bodenlose Unverschämtheiten" enthalte, die man schwulen und lesbischen Menschen nicht zumuten müsse. So ist dort etwa zu lesen, dass praktizierte Homosexualität ein erhebliches gesundheitliches und psychisches Risiko berge. Trotzdem sagt Stompfe: "Niemand in Marburg hat Homosexuelle irgendwie beleidigt."

Diese Haltung sei ein Bruch mit der Marburger Kultur auch innerhalb der CDU, meint Kahle. So sei unter dem früheren CDU-Oberbürgermeister Dietrich Möller eine Regenbogenfahne zum Christopher-Street-Day gehisst worden.

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 21. Mai 2009

Wellness-Licht für Volksvertreter

Aus der Rathausgeschichte
Grund für den Rathausneubau war der hohe Sanierungsbedarf des Anfang 2006 abgerissenen Gießener "Stadthauses", in dem große Teile der Verwaltung untergebracht waren. Die Sanierung des Anfang der 60er Jahre errichteten Gebäudes hätte laut einer Studie mindestens 20 Millionen Euro gekostet.
2004 hatten sich deshalb die damalige Gießener CDU/FWG/FDP-Koalition sowie die Grünen im Stadtparlament für einen Neubau ausgesprochen, in dem städtische Ämter, sowie kulturelle Einrichtungen wie eine Kunsthalle und die Stadtbibliothek Platz finden. Die gesamten Projektkosten für diese "große Lösung" wurden damals mit knapp 50 Millionen Euro beziffert.
SPD, PDS und Bürgerliste Gießen lehnten diese Pläne als nicht finanzierbar ab. Die Sozialdemokraten sprachen sich für einen deutlich kleineren, etwa 26 Millionen Euro teuren Neubau, allein für die städtischen Amter aus.
Bei einem Architektenwettbewerb kommt das Gießener Architekturbüro Rohrbach + Schmees 2005 auf den ersten Platz. Der Siegerentwurf wird aber nicht verwirklicht, sondern der drittplazierte Entwurf des Büros aplus, wie der Magistrat Wochen später mitteilt. Als Grund nennt der damalige Stadtkämmerer Volker Kölb (CDU), dass die Baukosten um 2,5 Millionen Euro niedriger seien. Außerdem sei das Raum- und Flächenangebot funktioneller. Das habe eine weitere Prüfung nach Ende des Architektenwettbewerbs ergeben.
Anfang 2006 wird das Gießener "Stadthaus" abgerissen, die Bauarbeiten beginnen. Während der dreieinhalbjährigen Arbeiten steigen die Baukosten immer weiter – von knapp 50 Millionen auf knapp 75 Millionen Euro. Unter anderem die Altlastensanierung wird wesentlich teuerer, als ursprünglich geplant.
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Das Gießener "Kulturrathaus" mit integriertem Konzertsaal und Kunsthalle ist fertig: Tag der offenen Tür im knapp 75 Millionen Euro teuren kommunalen Großprojekt

Über Gießens neugebautem Rathaus strahlt am Sonntagnachmittag die Sonne. Drinnen wird es ziemlich bunt: Ganz plötzlich wechselt das Deckenlicht im neuen Stadtverordnetensitzungssaal, wird erst hellblau, blau, dann rosa – bis der Plenarsaal schließlich in tiefrotes Licht gehüllt ist. "Das ist bestimmt das Wellness-Licht", ist der spontane Kommentar einer überraschten Besucherin: "Das brauchen die Gießener Politiker, um ihre Aggressionen untereinander abzubauen."

Fast 75 Millionen Euro hat der neue Sitz der Stadtoberen samt Verwaltung bislang gekostet, schlappe 25 Millionen mehr als einst eingeplant. Da ist das auf Knopfdruck bunt wechselnde Oberlicht im Plenarsaal kaum der Rede wert. Immerhin bietet das Gebäude rund 500 städtischen Mitarbeitern in 380 Büros Arbeitsplätze. Das Stadtbüro, die Stadtbibliothek, eine Kunsthalle und ein Konzertsaal sind neben der Verwaltung in dem hellen Gemäuer mit 23.000 Quadratmetern Hauptnutzfläche untergebracht.

Das Interesse an dem größten kommunalen Bauprojekt der vergangenen Jahrzehnte ist groß. Hunderte Gießener flanieren neugierig durch die Stockwerke – immer der gelben Linie nach, die vom Atrium über das Oberbürgermeister-Büro bis zur Kunsthalle und dem Stadtbüro führt. Da wird das "lichtdurchflossene Gebäude mit den großen Fensterflächen" gelobt, ebenso der "schöne Ausblick zum Stadttheater" aber auch "die völlig schmucklose, langweilige Fassade" beklagt.

Rathauschef Heinz-Peter Haumann (CDU) steht derweil bestens gelaunt in seinem Eckbüro, gibt sich leutselig und diskutiert munter mit Klein und Groß. Schließlich will Haumann bei der Oberbürgermeisterwahl am 7. Juni wiedergewählt werden. Und die wohlweißlich in die heiße Wahlkampfphase gelegte Rathauseinweihung eignet sich bestens zur Eigen-PR, wo doch nicht wenige Beobachter mit einem sehr knappen Wahlausgang rechnen.

Das ist ein Bürgermeister zum Anfassen", freut sich denn auch ein Mittfünfziger nach seinem kurzen Plausch mit dem Stadtoberen. Im Erdgeschoss sieht das Ina Müller ganz anders: "Mit diesem viel zu teuren Bau treiben Haumann und seine Parteikollegen Gießen in den finanziellen Ruin", ärgert sich die 32-Jährige, die gekommen ist, "um zu sehen, wo unsere Steuergelder versenkt werden". Mit dieser deutlichen Kritik bleibt sie freilich die Ausnahme. Viele Besucher freuen sich, "einfach mal reinschnuppern zu können, wo unsere Verwaltung jetzt arbeitet".

Kontrovers wird dagegen vor dem Rathaus in kleiner Runde über den aktuellen Stadtparlamentsbeschluss für das Großkino diskutiert. "Aller Protest dagegen hat nichts genutzt", klagt ein Rentner, während ein junger Familienvater das Lichtspielhaus für "längst überfällig" hält.

Und ein Student hat sich während des Rathaus-Rundgangs seine ganz eigenen Gedanken zu den schummrigen, tiefroten Lichtspielen im neuen Plenarsaal gemacht: "Jetzt hat sich die Gießener Regierung ihr eigenes Rotlichtviertel gebaut, bravo", grinst er beim Rausgehen seinen Freund an. "Fehlt nur noch die Stange für die Striptease-Tänzerinnen in der Mitte."

Georg Kronenberg

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