Express Online: Thema der Woche | 11. Juni 2009

Zwei Frauen an der Spitze

Historischer Wahlabend: Dietlind Grabe-Bolz (SPD) wird neue Gießener Oberbürgermeisterin und Anita Schneider (SPD) neue Landrätin. Damit erobern erstmals Frauen die Chefsessel in Stadt und Kreis

Lange hatte sich die SPD-Spitze in einem Fraktionszimmer im Rathaus zurückgezogen, auf Nummer Sicher gehen wollen, bis genug Wählerstimmen ausgezählt waren. Als dann am Sonntag gegen 20.30 Uhr SPD-Stadtchef Gerhard Merz über das ganze Gesicht strahlend mit schnellen Schritten herbeieilt und jubelnd seiner Spitzenkandidatin Dietlind Grabe-Bolz gratuliert, "1800 Stimmen Vorsprung und nur noch zehn Wahlbezirke fehlen. Es ist so, Frau Oberbürgermeisterin!", ist wohl auch dem letzten Zweifler unter den Genossen klar, dass die Sozialdemokraten in Stadt und Kreis einen historischen Wahlsieg errungen haben: Mit beachtlichen elf Prozent Vorsprung kann sich SPD-Oberbürgermeisterkandidatin Grabe-Bolz in Gießen von Amtsinhaber Heinz-Peter Haumann (CDU) absetzen. Im Landkreis sieht es kaum anders aus: SPD-Landratskandidatin Anita Schneider landet 9,6 Prozentpunkte vor CDU-Bewerber Siegfried Fricke.

Als die beiden Wahlsiegerinnen kurz nach 21.00 Uhr im Konzertsaal des neuen Rathauses erscheinen, wo die Stadt die Wahlergebnisse präsentiert, skandieren die zahlreichen SPD-Anhänger "Neues Gießen, neues Gießen" und "unbesiegbar, SPD!"

Auch wenn Letzteres – siehe Europawahl – der Wahrheit nicht unbedingt nahe kommt, SPD Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel, Europa-Abgeordneter Udo Bullmann und Stadtverbandsvorsitzender Gerhard Merz sind im Schlepptau der beiden Siegerinnen bestens aufgelegt. "Die SPD ist mit dem heutigen Abend durch ihre Oberbürgermeisterin wieder Regierungspartei in dieser Stadt", jubelt Gerhard Merz, während Grabe-Bolz und auch Schneider von der Deutlichkeit ihrer Wahlsiege überrascht sind.

Fassungslosigkeit auf der anderen Seite: "Ich bin tief enttäuscht", sagt der klar geschlagene Amtsinhaber mit versteinerter Mine zu einem Reporter, steht reglos im Konzertsaal und blickt immer wieder ernst zu der Projektion der Wahlergebnisse auf der Leinwand. Ganz still und leise taucht später CDU-Landratskandidat Fricke auf, bleibt weitgehend wortlos im hinteren Bereich des Saals stehen, bevor er ganz kurz nach vorne geht, Anita Schneider knapp gratuliert und wieder nach hinten verschwindet.

Kurz: ein tiefschwarzer Tag für die Gießener Christdemokraten, die nach der Landtagswahl zu Jahresbeginn bereits ihre Wunden lecken mussten, weil Gießens CDU-Chef Klaus Peter Möller völlig gegen den Trend aus dem Landtag geflogen war.

Die SPD ist dagegen im Freudentaumel: bei der Wahlparty Sonntagnacht im Bootshaus gibt es im übervollen Veranstaltungssaal kaum noch ein Durchkommen. Überglücklich fallen sich die Genossen in die Arme. Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel ist auf einen Stuhl geklettert und dankt in seiner Ansprache überschwänglich seinen Genossen für ihr enormes Engagement im Wahlkampf, Europaabgeordneter Udo Bullmann tut es ihm nach, Stadt-Chef Gerhard Merz ebenso. Dietlind Grabe-Bolz bittet schließlich einen alten Freund und Gesangspartner um einen ganz besonderen Beitrag: Kinderliedermacher Fredrik Vahle hat seine Gitarre für ein Ständchen zum Wahlsieg schon in der Hand.

Oberbürgermeisterwahl Gießen: Dietlind Grabe-Bolz (SPD): 55,5 %, Heinz-Peter Haumann (CDU): 44,5 %, Wahlbeteiligung: 43,4 %, Wahlberechtigte: 55.652

Landratswahl Kreis Gießen: Anita Schneider (SPD): 54,8 %, Siegfried Fricke (CDU): 45,2 %, Wahlbeteiligung: 41,9 %, Wahlberechtigte: 197.256

Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 11. Juni 2009

Himmel. Und Hölle

Sammlung Prinzhorn
Auf der Suche nach kulturanthropologischen Erkenntnissen baute der Kunsthistoriker und Arzt Hans Prinzhorn (1886 – 1933) eine Sammlung mit Werken von Anstaltskunst aus den Jahrzehnten 1850 bis 1930 auf. Während der Nazizeit missbraucht und nach 1945 lange Zeit vergessen, sind seit den 1980er Jahren rund 12.000 neuere Arbeiten psychiatrieerfahrener Patienten zur Sammlung hinzugekommen.
"Wahnsinn!"
bis 23.7.2009;
Di bis So 11.00 – 18.00 Uhr, Mi 11.00 – 20.00 Uhr;
öffentliche Führung jeden Sa ab 16.00 Uhr;
Kunstverein
"Wahnsinn!" – Der Kunstverein zeigt eine Ausstellung der Bundesvereinigung Lebenshilfe und neue Werke der Sammlung Prinzhorn.

Dunkel ist die Welt von Aleandra Galinova. Erschütternde Erlebnisse drängen sich zu autobiographischen Gemälden von expressiver Wucht.

Unsicher ist die Welt von Vanda Vieira-Schmidt. 500.000 Blätter Zeichnungen hat sie in zehn Jahren produziert, die sich als obsessives "Weltrettungsprojekt" einer permanenten Bedrohung entgegenstellen.

Unbegreiflich ist die Welt von Dietrich Orth. Dem Konzept einer eigenen Symbolik folgend, reduziert dargestellt, vermitteln skulpturale Körper kommentierend zwischen therapeutischer Handlungsanweisung für den Betrachter und Selbstvergewisserung des Malers.

Drei von sechs ausgestellten Künstlerinnen und Künstlern, deren Werk seit 2001 von der Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Klinik Heidelberg betreut wird, und die nun in Marburg erstmalig an einem anderen Ort zu sehen sind.

Die ausgestellten Werke öffnen Fenster, durch die der Betrachter flüchtige Eindrücke von ungeheuren Vorstellungswelten erhaschen kann. Aber es öffnen sich – fast ist man dankbar dafür – keine Türen. Die wahren Abgründe bleiben im Inneren ihrer Schöpfer verborgen.

Schwere Kost dennoch, die dem Betrachter einiges abverlangt. Soviel Dunkelheit, Angst, Schrecken und Trauer. Der Seelenpein der Prinzhorn-Ausstellung haben die Austellungsmacher in kluger Auslotung ein Gegengewicht mit "take off" gegeben: Werke von künstlerisch begabten Menschen mit geistiger Behinderung, zusammengestellt von der Lebenshilfe. In Umkehrung der Topologie wird der Hölle im ersten Stock ihr Antidot im Erdgeschoss verabreicht.

46 Künstlerinnen und Künstler stellen dort aus, was in 19 Ateliers der Behindertenhilfe unter künstlerischer Anleitung enstanden ist. Auch hier öffnet sich der Blick in eine andere Welt. Eine Welt freilich, die dem Betrachter um einiges näher zu sein scheint. Lustvoll, kreativ, spontan, bunt. Kosmos von Kreativität, der an den freudvollen und zweckfreien Schaffensdrang kleiner Kinder erinnert. Wo die "Vermählung der Heiligen Jungfrau" gefeiert wird, "Der blaue Kran" bespielt werden will und "Flugzeuge" von der Decke hängen statt in Meere zu stürzen. Fast wäre man geneigt, solche Wirklichkeit zu glauben.

Doch trügerisch bleibt die Welt da draußen. Und hier drinnen.

Michael Arlt

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