Express Online: Thema der Woche | 23. Juli 2009

Der Anarchist, die Sabotagewerkstatt und die Feldbefreiung

Gen-Gerste-Gegner Jörg Bergstedt vor Gericht

Die Zentrale der Gentechnikaktivisten sieht aus wie von Pippi Langstrumpf erfunden: Überlebensgroße Jahrmarktfiguren halten Plakate mit Titeln wie "Buntes Leben statt grauer Demokratie". Plüschküken, Hasen, Drachen und Ernies hängen an völlig windschiefen Balustraden, auf die das Bauamt niemanden mehr klettern lässt. Orange-blau leuchtet das ehemalige Bauernhaus mit der Schönschrift "Ohne Chef und Staat".

Auf der Treppe steht Jörg Bergstedt (45), bundesweit bekannter Anarchist und Ökoaktivist. Seit 1993 lebt er in der Projektwerkstatt im mittelhessischen Saasen bei Reiskirchen, die er gemeinsam mit wechselnden Mitstreitern zu einem wild verwinkelten Stützpunkt für widerständige Aktionen aller Art gemacht hat. Die Polizei interessiert sich vor allem für die "Redaktionsräume" im Erdgeschoss und die "Sabotagewerkstatt", die sich gleich hinter dem selbst gebauten Wintergarten mit hineinrankendem Wein verbirgt: Fußüberzieher, Schablonen, Sekundenkleber, Weihnachtskugeln, Wasserpistolen, Gips und Armfesseln zum Anketten an Betonblocks und Schienen sind hier bunt durcheinander gestapelt.

Wie viele Hausdurchsuchungen er bereits hinter sich hat, vermag Bergstedt gar nicht zu sagen. Auch die Zahl der Festnahmen kann er nicht mehr beziffern. Seit Mitte Juli beschäftigt er die Justiz erneut: Weil er gemeinsam mit drei Mitstreitern ein Versuchsfeld mit Gengerste zerstörte, steht er vor dem Landgericht Gießen. Vor laufender Kamera zerschnippelten die Aktivisten den Zaun des Versuchsfeldes der Justus-Liebig-Universität und rupften einen Teil der gentechnisch veränderten Pflanzen auf der nur 9,6 Quadratmeter großen Fläche aus. In der ersten Instanz wurde er zu einem halben Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. "Jetzt gibt das entweder eine hohe Verurteilung oder eine Einstellung des Verfahrens", schätzt Bergstedt.

Aber das kann dauern, meint Reinhard Hübner von der Gießener Staatsanwaltschaft: "Dem fällt ja immer etwas Neues ein, wie er den Prozess sabotieren kann", stöhnt der Jurist. Hübner erzählt von Zuschauern, die herausgetragen werden mussten, und Aktivisten, die die Fassade des Gerichtsgebäudes hochkletterten.

In der Tat möchte Bergstedt den Prozess auch diesmal am liebsten zu einem Forum für die Gentechnikgegner machen. Der Aktivist beruft sich auf rechtfertigenden Notstand. Er hält die Versuche der Forscher für "kriminell". Sein Widerpart habe gegen viele Sicherheitsauflagen und Gentechnikgesetze verstoßen, behauptet Bergstedt.

Bei Auseinandersetzungen mit Justiz und Polizei kennt sich der 45-Jährige, der sich fast immer selbst verteidigt, inzwischen gut aus. Schließlich protestiert und demonstriert der Lehrersohn schon seit seiner Jugend in Norddeutschland gegen Atomkraft, Gentechnik, Polizeiwillkür und die Gefahrenabwehrverordnung. Im vergangenen Jahr hat er 32 Tage auf den Genfeldern der Republik verbracht. Im Kelsterbacher Wald hat er wochenlang mitgemacht. Die Projektwerkstatt steht allen Aktivisten offen: Seminarräume mit Chaosfaktor, eine verwinkelte Bibliothek und ein Lager mit 22 Betten.

Der abgebrochene Landschaftsökologiestudent sieht sich als "radikaler Herrschaftskritiker". So radikal, dass er selbst Organisationen wie Attac scharf attackiert. Dass er mit den "blöden Hierarchien" nicht klar kommt, räumt er selbst ein. Aus der Naturschutzjugend, dessen Bundesvorstand er einst angehörte, flog er schon 1990 heraus.

Bergstedts Spezialität ist die "Kommunikationsguerilla", mit der er der Gießener Polizei mitunter den letzten Nerv raubte. Dahinter verbirgt sich eine Art politisches Theater, das auf den ersten Blick aber nur für Eingeweihte zu erkennen ist. Unfreiwillige Mitspieler wurden in vielen Fällen die Menschen in der Gießener Fußgängerzone, die er auf diese Weise gegen die Politik aufzubringen versucht. Lieblingsverkleidungen: Polizeiuniformen und Arztkittel. Gern verfremdet er auch die Wahlplakate aller Parteien und nimmt Innenminister Volker Bouffier aufs Korn. Das machte so oft und in so vielen Varianten, dass er nach eigenen Angaben achtmal bis zu sechs Tagen in Polizeigewahrsam landete.

Als Folge einer Aktion vor einem CDU-Wahlkampfstand mit Bouffier sollte er eigentlich acht Monate Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt absitzen. Doch das Bundesverfassungsgericht kassierte das Urteil, weil die Festnahme Bergstedts rechtswidrig war. "Er hat auch Fehler von Polizei und Justiz aufgedeckt", räumt Staatsanwalt Hübner ein.

Gearbeitet hat der Politprovokateur nach eigenen Angaben nur einmal im Leben: Ende der 90er Jahren, als er wegen der Besetzung einer Golfplatzbaustelle im nahegelegenen Winnerod einen Monat lang im Knast saß, pflegte er die Grünanlagen des Gerichts. "Ich brauche fast kein Geld", erklärt Bergstedt. Die Projektwerkstatt finanziert er aus dem Verkauf seiner zahlreichen Bücher und Broschüren. So schreibt er über eine Welt ohne Knäste, den Mythos Attac, Biotopschutz und kreative Widerstandsmethoden. Sich selbst ernährt er aus dem großen Garten und den Abfällen der Gesellschaft. Gerade hat er den Kühlschrank bis oben hin mit Joghurts, Käse und Rosmarinbutter gefüllt. Der hagere Anarchist ist darin Experte: "Das stammt alles direkt aus dem Müll eines einzigen Supermarkts."

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 23. Juli 2009

Freiheit zurückerobern

Zur Person:
Joybrato Mukherjee /
Der Obama aus Gießen
Bei der Buchausleihe in der Bibliothek wird Joybrato Mukherjee gelegentlich noch für einen Studenten gehalten. "Wegen meiner Dienstkleidung mit Anzug und Krawatte lässt das aber langsam nach", sagt der 35-jährige Professor für englische Sprachwissenschaft, der seit 2008 auch Vizepräsident der Gießener Uni ist.
Nachdem der erweiterte Senat Mukherjee zum neuen Präsidenten der Justus-Liebig-Universität gewählt hat, ist es mit der Verwechslungsgefahr wohl vorbei. Wenn er im Dezember sein Amt antritt, wird er der jüngste Chef einer öffentlichen deutschen Uni sein.
Einen Spitznamen hat der künftige Präsident der mittelhessischen Hochschule mit rund 23.000 Studierenden und 3.200 Beschäftigten bereits jetzt. "Unser Obama" wird Mukherjee verwaltungsintern gern genannt. Das Lob, das er für "überhöht" hält, hat sich der Sohn einer indischen Einwandererfamilie weniger durch seine Hautfarbe als durch seine offene und unkomplizierte Art verdient. Und durch die Fachkompetenz, mit der der eloquente Anglist den seit Ende März erkrankten amtierenden Hochschulpräsidenten Stefan Hormuth vertritt.
Mukherjee hat sich vor der Präsidentenwahl keine Schnitzer geleistet und Führungskraft gezeigt. Im Kampf um den Chefposten hat er das mit Abstand detailreichste Konzept für die Hochschulentwicklung bis 2020 vorgestellt. Schließlich hat die 74000-Einwohner-Stadt Gießen aus seiner Sicht ein enormes Profilierungspotenzial: "Wir sind die Stadt mit der höchsten Studentendichte in Deutschland. Hier gibt es eine Universität, eine Fachhochschule und das weltweit einmalige Mathematikum. Objektiv lässt es sich hier sehr gut studieren. Das müssen wir in Zusammenarbeit mit der Stadt noch mehr bewerben."
Wie sehr er Gießen schätzt, hat der ausgebildete Gymnasiallehrer, der über seine Begeisterung für englische Literatur zum Anglistik-Studium kam und bereits mit 29 Jahren habilitierte, mehrfach gezeigt: Er lehnte mehrere Rufe anderer Universitäten ab, etwa nach Zürich und Salzburg. Sicher, er habe sich intensiv mit den Angeboten auseinandergesetzt, sagt Mukherjee. "Aber für die Uni Gießen hat immer gesprochen, dass hier vieles möglich ist, was an anderen Hochschulen nicht geht." Beispielsweise einen so jungen Wissenschaftler wie ihn zum Uni-Präsidenten zu wählen.
kro
Strukturen ja – Studiengebühren nein: Im Express-Interview erklärt der designierte Präsident der Justus-Liebig-Universität, Joybrato Mukherjee, warum eine Uni kein Unternehmen ist.

Express: Herr Mukherjee, in Zeiten knapper werdender Finanzmittel und zunehmenden Wettberwerbs zwischen den Universitäten sollte man meinen, das in der Unileitung Managertypen gefragt sind, die die Hochschule auf Effizienz trimmen. Ihr "Präsidium der offenen Türen" hört sich wie ein Gegenentwurf dazu an.
Mukherjee: Eine Universität lebt von der Eigeninitiative, der Kreativität und der Diskussionsfreude jedes Einzelnen. Deshalb setze ich auf einen Dreiklang aus Gesprächsbereitschaft, Diskussionsfreude – und natürlich auch Entscheidungskraft. Das ist in keiner Weise ein Gegenentwurf zu modernem Management. Außerdem muss man sich bewusst machen: eine Universität ist keine Firma und kann auch nicht wie ein Unternehmen geleitet werden.

Express: Warum?
Mukherjee: Die Grundsubstanz einer Universität ist die Forschung, die von jedem einzelnem Wissenschaftler – zusammen mit seinen Mitarbeitern – geleistet wird. Das ist ganz anders als in einem Unternehmen, wo sie klassisch etwa auf ein Produkt hinarbeiten. In einem Unternehmen gibt es auch keine Beamten. An der Uni aber schon – und diese Beamtenverhältnisse sind wichtig, um ein anderes wichtiges Gut sicherzustellen – die Freiheit von Forschung und Lehre. Diese Freiheit von Forschung und Lehre gibt es an einem Unternehmen nicht. Da hören alle Vergleiche auf.
Sie können an einer Uni auch nicht einfach einen Fachbereich wegen mangelnder Nachfrage schließen um Geld zu sparen – und wenn die Nachfrage nach zwei Jahren wieder da ist, wieder aufmachen. Wissenschaft läuft in langen Linien. Wenn man ein Fach aufgibt, schneidet man eine Forschungs- und Lehrtradition ab, die man nicht mehr von heute auf morgen herstellen kann.

Express: Sie haben in den 90er-Jahren studiert, als das Studium noch lange nicht so verschult war, wie es inzwischen durch die Modularisierung und die Einführung der Bachelor- und Master-Abschlüsse geworden ist. Was halten sie von dem neuen System?
Mukherjee: Die Ehrlichkeit gebietet es, dass man das frühere System nicht verklärt. Es hat damals zu Recht große Kritik gegeben. Beispielsweise gab es in einigen Fächern extrem hohe Studienabbrecherquoten. Mit dem Bologna-Prozess, der Einführung des modularisierten Systems hat man auf die Kritik an den hohen Abbrecherzahlen wegen der damals mangelnden Struktur des Studiums reagiert.

Express: Das heißt, das neue System ist besser?
Mukherjee: Modularisierte Studiengänge sind strukturiert – und das ist ein großer Vorteil: heute ist jedem Studierenden durch die genaue Beschreibung der Module von Tag eins an klar, welche Studieninhalte und welche Prüfungsformen wann auf ihn zukommen. Das war bei mir noch ganz anders. Die Studieninhalte haben sich damals von Semester zu Semester durch das aktuelle Seminarangebot ergeben.

Express: Das hat ihrer außergewöhnlichen Karriere aber nicht geschadet ...
Mukherjee: Es gab damals mehr Freiheit für die Studierenden – die aber mit viel Schatten verbunden war. So hat sich bereits jetzt gezeigt, dass das neue System in einigen Studiengängen zu signifikant höheren Abschluss- und signifikant geringeren Abbrecherquoten führt.
Wir müssen allerdings in einer zweiten Stufe überprüfen, wo Fehler bei der Modularisierung passiert sind: Wo wurde zu viel reguliert? Wo gibt es zu hohe Prüfungsbelastungen? Diese Fehler müssen wir jetzt schnell ändern – und damit gewissermaßen Freiheitsgrade für die Studierenden zurückerobern. An der Gießener Uni haben wir gerade erst ein Änderungspaket mit genau diesem Ziel durch den Senat gebracht.

Express: Sie sind ein Gegner von Studiengebühren?
Mukherjee: Da mache ich keinen Hehl daraus. Bildung ist unser wichtigster Rohstoff in Deutschland. Und wenn das in unserer Gesellschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, dann muss ein Studium entgeltfrei sein.

Interview: Georg Kronenberg

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