Express Online: Thema der Woche | 10. September 2009

"Wir werden dritte Kraft"

Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, läutete in Gießen und Marburg die heiße Phase des lokalen Wahlkampfes ein. Ein Express-Gespräch über Perspektive, Glaubwürdigkeit und warum der Blaumann grün werden muss.

Express: "Die Zukunft ist grün", heißt es in ihrem Grundsatzprogramm. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen sie bestenfalls grau. Haben die die falsche Perspektive?
Claudia Roth: Dass Menschen sich in der gegenwärtigen Situation Sorgen machen, ist doch ganz logisch. Wir haben es mit drei globalen Krisen zu tun, der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Klimakrise und einer Hungerkrise. Alle drei Krisen hängen miteinander zusammen und müssen zusammen angegangen werden. Doch die Große Koalition agiert ziel- und konzeptlos und setzt auf Verdrängung. Dass weltweit eine Milliarde Menschen vom Hunger bedroht sind, ist für sie kein Thema. Und erst recht nicht der Umstand, dass das auch etwas mit Klimaveränderungen und der ökonomischen Krise zu tun hat. Und selbst die Klimakrise wird verdrängt, wenn Frau Merkel zum Beispiel sagt: Jetzt machen wir erst einmal Wirtschaft, Klima kommt dann später. Wir Grüne haben dagegen ein stimmiges Gesamtkonzept. Wir wollen einen Grünen New Deal als Weg aus der Krise. Das ist unsere grüne Antwort auf die Krise, eine realistische Antwort, bei der wir nicht grau oder schwarz sehen müssen, sondern optimistisch in die Zukunft blicken können.

Express: Der Wahlkampf lässt sich ziemlich schleppend an. Im Vergleich zur Ära Schröder-Fischer können sie 2009 einen eigenständigen grünen Wahlkampf ohne Rücksicht auf bestehende Koalitionen führen. Welches sind ihre aktuellen Themen?
Claudia Roth: Unsere zentralen Themen sind Klima, Gerechtigkeit, Freiheit und Arbeit. Wir wollen gezielt in nachhaltiges klimafreundliches Wirtschaften investieren. Der Blaumann muss grün werden, z.B. mit Elektroautos. Hier liegen die Arbeitsplätze der Zukunft. Wir wollen die Erneuerbaren Energien ausbauen und keine längeren Laufzeiten für Uralt-AKWs, wie Schwarz-Gelb das will, und auch keine neuen klimaschädlichen Kohlekraftwerke. Die energetische Gebäudesanierung schafft Jobs im Mittelstand. Wir wollen Investitionen in ein gutes und gerechtes Gesundheitssystem. Wir wollen viel stärker in Bildung und Wissenschaft investieren, denn das ist ein entscheidender "Rohstoff" im 21. Jahrhundert. Der Grüne New Deal kann bis 2013 eine Million neue, zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es eine große Gerechtigkeitslücke in unserem Land gibt. Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer. Die Menschen müssen von ihrer Arbeit leben können, deshalb sind wir für gesetzliche Mindestlöhne. Hartz IV darf nicht in die soziale Verelendung führen, die Sätze müssen angehoben werden, vor allem die für Kinder. Wir Grüne wollen eine Bürgerversicherung, die auch die Einkommensstärkeren in die solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems einbezieht, statt einem System der zwei Wartezimmer, für das Schwarz-Gelb steht.
Schließlich geht es um Freiheit. Der Innenminister will Computer der BürgerInnen ausspähen. Private Unternehmen durchkämmen die persönlichen Daten Ihrer Mitarbeiter, sensibelste Kundendaten wie Konto- und Handynummern werden verschludert und verschachert. Wir Grünen meinen: Rechtsstaat und Freiheit schützt man, indem man sie bewahrt und ausbaut, und nicht, indem man sie abbaut und gegen einen Schnüffelstaat ersetzt.

Express: Laut einer ARD-Umfrage schneiden die Grünen in punkto Glaubwürdigkeit mit immerhin 35 Prozent am besten ab. Das Ziel, dritte Kraft zu werden, wird mit 13 Prozent allerdings verfehlt. Wie wollen sie diesen Vertrauensbonus in Wählerstimmen ummünzen?
Claudia Roth: Dieses Vertrauen der Menschen in die Grünen sehe ich ganz konkret auch im Wahlkampf. Ich habe da ja schon manche Schlacht geschlagen, aber diesmal ist es doch etwas Besonderes. Wir werden sehr freundlich empfangen, unsere Veranstaltungen sind gut besucht, es finden tolle inhaltliche Diskussionen statt. Auch Kultur spielt eine wichtige Rolle. Wir zeigen kritische Filme, über die wir mit Schauspielern und Regisseuren diskutieren, engagierte Bands mit tollen Texten und fetziger Musik spielen auf unseren Veranstaltungen. Das sind Angebote, die sehr gerne angenommen werden. Und was den Kampf um Platz 3 angeht, da sage ich: Schauen wir mal, wie es in der Endabrechnung aussieht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Schmalspurpartei wie die FDP, deren neoliberale Ideen viel zur gegenwärtigen Krise beigetragen haben, für solche abwegigen und falschen Konzepte auch noch belohnt wird. Ich glaube, da geht es in der heißen Phase des Wahlkampfs um glasklare Aufklärungsarbeit. Und vor allem: Wir wollen Schwarz-Gelb verhindern, nicht nur, weil das die Farbkombination auf den Atommüllfässern ist, sondern weil es eine denkbar schlechte Regierungskonstellation für unser Land wäre.

Express: Vor 30 Jahren wurden die Grünen als Protestpartei aus der Taufe gehoben und sind mit ökologischem Anliegen großgeworden. Warum wandern Protestwähler 2009 zur Linkspartei und nicht zu den Grünen?
Claudia Roth: Was die Wählerwanderungen angeht, so sehe ich das durchaus anders. Die SPD ist in einer tiefen Krise. Wir Grüne haben jetzt eine lange Folge von guten und besten Wahlergebnissen, zuletzt bei den Europawahlen, und in Thüringen, wo wir nach 15 Jahren wieder im Parlament sind, in Sachsen, wo wir gut zugelegt haben, und im Saarland, wo wir in einer ganz entscheidenden Rolle sind. In den letzten Wahlen gab es übrigens signifikante Wählerwanderungen von der Union zur Linkspartei und auch von der NPD zur FDP, worüber man einmal vertieft nachdenken sollte. Was demokratischen Protest und Widerstand angeht, so sollte uns Grüne niemand unterschätzen. In Sachen Anti-AKW-Politik oder beim Thema Globalisierung kommt auf den Straßen und Plätzen dieser Republik niemand so schnell an uns vorbei. Allerdings setzen wir nicht auf abstrakten Protest, auf das bloße Kontra, das macht den Unterschied. Zum Beispiel auch bei den Auslandseinsätzen, auch bei Afghanistan. Wir Grüne haben oft stellvertretend für die ganze Gesellschaft diskutiert, während andere sich mit einem schnellen Ja oder Nein einer verantwortlichen Debatte entzogen haben. Und in Afghanistan ist unsere Position klar. Wir kritisieren die gegenwärtige Politik der Bundesregierung und der Nato. Wir wollen den Strategiewechsel hin zum zivilen Aufbau. Denn nur so gewinnen wir Frieden und Sicherheit, eine tragfähige Perspektive für Menschenrechte und Entwicklung.

Express: Was stellen sie für den Wahlabend des 27.9. kalt – Sekt oder Selters?
Claudia Roth: Ich setze auf Sekt – und spät abends auf ein kühles Bier! Wir werden dritte Kraft, verhindern Schwarz-Gelb und machen all denen, die sich wieder unter die warme Decke der Großen Koalition kuscheln wollen, einen dicken Strich durch die Rechung.

Interview: Michael Arlt

Archiv 2009 >> 2008 >> 2007 >> 2006 >> 2005 >> 2004 >>


Copyright © 2009 by Marbuch Verlag GmbH