Express Online: Thema der Woche | 17. September 2009

Alles offen?

Wie wählen die Marburger am 27.9.? Der Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Norbert Kersting zum Stimmverhalten im Wahlkreis bei der Bundestagswahl 2009

Prognosen

Für den Wahlforscher ist es immer wieder überraschend, dass die alten Bundestagswahlergebnisse oft die beste Prognose sind, da die politischen Lager über einen längeren Zeitraum weitgehend stabil bleiben.

Die Bundestagswahlen 2005 waren durch klare parteipolitische Positionen geprägt. Damals waren die CDU Positionen wie Kopfpauschale, Mehrwertsteuererhöhung, "25 % Steuer" etc. heftig umstritten. Diese CDU-Wahlkampfthemen wurden im Nachhinein für das überraschend schlechte Ergebnis der CDU 2005 verantwortlich gemacht. Die CDU zeigt sich in diesem Wahlkampf 2009 deutlich kontur- und profilloser. Die Kleinparteien und insbesondere die Linkspartei gehen weiterhin in ihren Forderungen deutlich auseinander.

Der alte Ausspruch, dass das letzte Wahlergebnis die beste Prognose für das neue ist, stimmt in der Regel schon, dürfte aber bei der folgenden Bundestagswahl wohl nur begrenzt zutreffen. Ein Versuch die vorhergehenden Landtags- und Europawahlen für eine Prognose heranzuziehen, dürfte ebenfalls wenig erfolgreich sein, da hier die Wahlbeteiligung erheblich niedriger liegt als gemeinhin bei Bundestagswahlen. Von daher macht es Sinn, einen längeren Zeitraum zu betrachten. 1998 herrschte eine massive Wechselstimmung vor, die selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung attestierte. Die beiden letzten Wahlen waren durch eine Polarisierung im Bereich Sozial- und Friedenspolitik geprägt (2002, 2005), durch die die SPD profitierte. Die Wahl 2009 sieht die CDU als Regierungspartei, die in der Großen Koalition und im Wahlkampf Konfliktthemen vermeidet.

So ist auch im Landkreis Marburg-Biedenkopf bei der Zweitstimme ein knapperes Ergebnis als bei den vorherigen Bundestagswahlen zu erwarten. Die SPD lag 2005 mit etwa 55.000 Zweitstimmen vor der CDU mit 45.000 Stimmen. Die Grünen erreichten etwa 14.000 Stimmen bei den Bürgern, die FDP etwa 13.000 und die Linke etwa 9.000 Stimmen.

Historisch ein Fotofinish

Der Wahlkreis Marburg-Biedenkopf ist für Wahlforscher besonders interessant, da hier historisch die Erststimme und das direkte Mandat heftig umkämpft sind. Bei der Wahl 2005 hatte der SPD-Spitzenkandidat zwar 15.000 Stimmen Vorsprung. Schaut man länger zurück, so lag bei der Wahl 1994 die damalige SPD-Kandidatin gerade einmal 1.000 Stimmen vor dem CDU-Kanzleramtsminister Bohl, der sich nur über die Landesliste einen Platz im Bundestag sichern konnte.

Viel hängt davon ab, ob es den Kandidaten gelingt, die Wähler aus dem "linken" und "rechten" Lager von strategischem Wahlverhalten zu überzeugen. Bei den letzten Wahlen neigten insbesondere FDP-Anhänger zu einem strategischen Wahlverhalten und einem klaren Stimmensplitting. Nahezu zwei Drittel der FDP-Wähler scheinen 2005 für den CDU-Kandidaten votiert zu haben. Bei den Grünen konnte sich immerhin ein Drittel der Wähler zur Wahl der SPD-Kandidatin bewegen. Bei der Wahl 2002 war das Verhältnis fast identisch. Hier haben mehr als die Hälfte der Grünen-Wähler (7000) ihre Stimme dem SPD-Kandidaten gegeben, der auch damals mit 15.000 Stimmen deutlich vor dem CDU Kandidaten lag.

Bei der Linkspartei gaben 2005 dagegen nahezu drei Viertel ihre Stimme "ihrem" aussichtslosen eigenen Kandidaten. Insgesamt haben 2005 von den 140.000 Wählern im Landkreis etwa 18.000 ihre Stimme den aussichtslosen Kandidaten der kleinen Parteien gegeben und somit letztendlich verschenkt.

2009 ist für zusätzliche Spannung gesorgt. Der SPD-Kandidat Sören Bartol aus Marburg und der neue CDU-Frontmann Stefan Heck aus Amöneburg sind nicht oder nur unzureichend über die Landesliste abgesichert.

Da die Direkt-Kandidaten der Kleinparteien sehr weit abgeschlagen sind, läuft es auf ein Duell der Bundestagskandidaten der Großparteien hinaus. Dabei unterscheiden sich die Kandidaten deutlich. Der Mandatsinhaber Sören Bartol steht für die alte Rot-Grüne Regierungspolitik. Für den CDU-Gegenkandidat Stefan Heck ist es die erste nennenswerte Kandidatur und der erste eigene Wahlkampf. Deutlich wird auch ein unterschiedlicher Politikstil. Während der Bundestagsabgeordnete Bartol seine Amtszeit nutze, um in Marburg sowie im Ost-, Westkreis und Hinterland Präsenz zu zeigen und sich in Berlin um heimische Belange zu kümmern, hat Stefan Heck diesen Mandatsbonus nicht und scheint eher im Ostkreis und weniger in der Stadt Marburg verwurzelt.

Die weiteren Kandidaten Henning Köster (Linkspartei), Matthias Knoche (B90/Die Grünen) und Jörg Behlen (FDP) haben keinerlei Chance auf ein Direktmandat. Sie können aber ihre Parteipositionen in den Wahlkampf einbringen und kämpfen um Zweitstimmen für ihre Partei.

Laut Umfragen sieht es zwar derzeit nicht so aus, aber das Rennen ist noch deutlich offener als es derzeit den Anschein macht. Nutzen die Wähler und insbesondere die Studenten die Erleichterungen bei der Briefwahl und die Möglichkeit zur Vorabwahl im Rathaus? Trotz aller derzeitigen Prognosen zeigen die Erfahrungen der letzen Bundestagswahlen, dass es noch nicht klar ist wer die neue Regierung stellt und wir uns auf einen langen Wahlabend und ereignisreiche Tage nach der Wahl vorbereiten können.

Tabelle: Bundestagswahlen Landkreis Marburg-Biedenkopf
(Absolute Stimmen)
20051. Stimme
(Kandidat)
2. Stimme
(Partei)
SPD67.00055.000
CDU52.00045.000
B90/Grüne6.00014.000
Die Linke7.0009.000
FDP5.00013.000
20021. Stimme
(Kandidat)
2. Stimme
(Partei)
SPD68.00060.000
CDU54.00050.000
B90/Grüne7.00015.000
Linkspartei
(PDS)
2.5002.600
FDP7.00010.000

Norbert Kersting

Norbert Kersting ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität. Er ist der Herausgeber der Marburger Meinungsbilder. Seine Meinungsumfragen und -analysen begleiten Marbuger Kommunalpolitik seit Beginn der 1990er Jahre. Derzeit ist er DAAD-Professor an der Stellenbosch University vor den Toren Kapstadts. Dort genießt er die frühlingshaften Temperaturen und das WM-Fieber.


Express Online: Thema der Woche | 17. September 2009

Alles offen?

Wie wählen die Gießener am 27.9.? Der Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Norbert Kersting zum Stimmverhalten im Wahlkreis bei der Bundestagswahl 2009

Prognosen

Die Bundestagswahlen 2005 waren durch klare parteipolitische Positionen gekennzeichnet. Damals prägten CDU-Positionen wie Kopfpauschale, Mehrwertsteuererhöhung, "25 % Steuer" die Diskussion. Diese CDU-Wahlkampfthemen wurden im Nachhinein für das überraschend schlechte Ergebnis der CDU 2005 verantwortlich gemacht. Die CDU zeigt sich in diesem Wahlkampf 2009 deutlich kontur- und profilloser. Die Kleinparteien und insbesondere die Linkspartei gehen weiterhin in ihren Forderungen deutlich auseinander.

Der alte Ausspruch, dass das letzte Wahlergebnis die beste Prognose für das neue ist, stimmt in der Regel schon, dürfte aber bei der folgenden Bundestagswahl nur begrenzt zutreffen. Ein Versuch die vorhergehenden Landtags- und Europawahlen für eine Prognose heranzuziehen, dürfte ebenfalls wenig erfolgreich sein, da hier die Wahlbeteiligung erheblich niedriger liegt als gemeinhin bei Bundestagswahlen. Von daher macht es Sinn, einen längeren Zeitraum zu betrachten. 1998 herrschte eine massive Wechselstimmung vor, die selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung attestierte. Die letzten Wahlen waren durch eine Polarisierung im Bereich Sozial- und Friedenspolitik geprägt (2002, 2005), durch die die SPD profitierte. Die Wahl 2009 sieht die CDU als Regierungspartei, die in der Großen Koalition und im Wahlkampf Konfliktthemen vermeidet.

Im Wahlkreis Gießen sind eher relativ knappe Ergebnisse zu erwarten. Die SPD lag 2005 aber mit 62.000 Zweitstimmen vor der CDU mit 54.000 Stimmen. Die Grünen erreichten etwa 17.000 Stimmen bei den Bürgern, die FDP immerhin etwa 21.000, die Republikaner 1400 und Die Linke 10.000 Stimmen.

Wieder ein Fotofinish?

Interessant wird vor allem die Erststimme. Der Wahlkreis Gießen ist für Wahlforscher besonders spannend, da hier um die Erststimme und das direkte Mandat heftig gekämpft wird. Bei der Wahl 2005 hatte der SPD-Kandidat noch 9000 Stimmen mehr als der CDU-Kandidat. Dieser Vorsprung war nicht immer so deutlich.

Bei der Auswahl der Kandidaten zeigte sich bei den letzten Wahlen unter den FDP-Anhängern ein klares Stimmensplitting. Fast die Hälfte der FDP-Wähler scheint 2005 für einen Kandidaten der Spitzenpartei votiert zu haben. Bei der Wahl 2002 war immerhin ein Drittel der B90/Grünen bereit, den Kandidaten der SPD zu wählen. Bei den Grünen konnte sich 2005 sogar mehr als die Hälfte der Grünen Wähler zur Wahl des SPD-Kandidaten bewegen. Insgesamt haben dennoch von den etwa 170.000 Wählern im Landkreis etwa 22.000 ihre Stimme den aussichtslosen Kandidaten der kleinen Parteien gegeben und somit verschenkt.

Da die SPD mit dem alten Spitzenkandidaten Rüdiger Veit antritt, der die Stimmen aus dem linken Lager mobilisieren kann, dürfte es der Gegenkandidat der CDU Helge Braun erneut schwer haben.

Laut Umfragen sieht es zwar derzeit nicht so aus, aber das Rennen ist noch deutlich offener als es derzeit den Anschein hat. Nutzen die Wähler und insbesondere die Studenten die Erleichterungen bei der Briefwahl und die Möglichkeit zur Vorabwahl im Rathaus? Trotz aller derzeitigen Prognosen zeigen die Erfahrungen der letzen Bundestagswahlen, dass es für die vielen denkbaren Regierungsmodelle und -koalitionen knapp werden könnte und wir uns auf einen langen Wahlabend und ereignisreiche Tage nach der Wahl vorbereiten können.

Tabelle: Bundestagswahlen Landkreis Gießen
(Absolute Stimmen)
20051. Stimme
(Kandidat)
2. Stimme
(Partei)
SPD74.00062.000
CDU65.00055.000
B90/Grüne9.00017.000
Die Linke8.00010.000
FDP12.00021.000
20021. Stimme
(Kandidat)
2. Stimme
(Partei)
SPD78.00071.000
CDU68.00063.000
B90/Grüne9.00017.000
Linkspartei
(PDS)
2.7002.500
FDP15.00016.000

Norbert Kersting

Norbert Kersting ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität. Er ist der Herausgeber der Marburger Meinungsbilder. Seine Meinungsumfragen und -analysen begleiten Marbuger Kommunalpolitik seit Beginn der 1990er Jahre. Derzeit ist er DAAD-Professor an der Stellenbosch University vor den Toren Kapstadts. Dort genießt er die frühlingshaften Temperaturen und das WM-Fieber.

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