Express Online: Thema der Woche | 8. Oktober 2009

Reich in der Wirtschaftskrise

Marburg in Zahlen
Einwohnerzahl: Stieg von 78.000 (1997) auf 81.000, darunter 19.000 Studierende.
Größte Arbeitgeber: Die Philipps-Universität mit etwa 7500 Arbeitsplätzen (einschließlich Uni-Klinikum) sowie die Nachfolgeunternehmen der ehemaligen Behringwerke, bei denen rund 4000 Menschen arbeiten.
Beschäftigte: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg seit 1999 von knapp 35.000 auf knapp 38.000. Die Arbeitslosenquote liegt bei acht Prozent.
Finanzen: Die Gewerbesteuereinnahmen betragen 67,5 Millionen. Allerdings sanken die Schlüsselzuweisungen von 25 Millionen Euro (2005) auf elf Millionen Euro (2009). Zudem muss Marburg im Vergleich zu 2005 elf Millionen mehr für die Kreisumlage aufbringen. Die Stadt investiert mehr als 70 Millionen Euro.
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Während andere Kommunen kurz vor der Pleite stehen, geht es Marburg prächtig: seit drei Jahren erreichen die Gewerbesteuereinnahmen ungeahnte Höhen

Mitten in der Weltwirtschaftskrise wird Marburg immer reicher. So reich, dass die Stadt alle Kreditschulden auf einen Schlag zurückzahlen könnte. Und es sieht nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde. Die Stadt profitiert sogar von der Schweinegrippe. Marburg beherbergt nämlich nicht nur das Hochsicherheitslabor für gefährliche Viren. Hier wird auch der Impfstoff gegen die Seuche produziert.

Hauptgrund für den ersehnten Geldsegen sind die Gewerbesteuereinnahmen, die seit drei Jahren ungeahnte Höhen erreichen: Lagen sie bis 2005 meist bei rund 30 Millionen Euro, so sind es 2009 voraussichtlich 68 Millionen, obwohl der Gewerbesteuermessbetrag gesenkt wurde. Die größten Zahler sind die von der Wirtschaftskrise wenig betroffenen Pharmaunternehmen CSL und Novartis Behring, die Blutprodukte und Impfstoffe herstellen, sowie der Finanzdienstleister Reinfried Pohl, dessen Holding ihren Sitz in Marburg hat. Die Stadt hat nämlich auch das Glück, dass ihre großen Steuerzahler ihre Steuern auch an der Lahn zahlen. "Es gibt eine große Verbundenheit der Protagonisten mit Marburg", sagt Oberbürgermeister Egon Vaupel. Der zum Ehrenbürger ernannte Pohl, Gründer der Deutschen Vermögensberatung, hat den Sitz seiner Holding sogar eigens von Frankfurt nach Marburg verlegt.

Den zweiten Grund für das "stabile Fundament" der Politik sieht Vaupel in der sparsamen Haushaltsführung, die Marburg schon seit den 70er Jahren auszeichne: "Wir stehen für eine konservative Finanzpolitik ohne Spekulationsgeschäfte", betont der Sozialdemokrat, der die Stadt gemeinsam mit den Grünen regiert. Die Schulden hat der gelernte Finanzbeamte in den vergangenen Jahren von 98 Millionen Euro (2005) auf 34 Millionen zurückgefahren. Zinslasten in Verhandlungen mit den Kreditinstituten zu drücken, bezeichnet Vaupel geradezu als sein Hobby. Und die restlichen Schulden zahlt die Stadt nur deshalb noch nicht ab, weil die Banken sonst so genannte "Vorfälligkeitsentschädigungen" fordern würden.

Grundsätzlich wird die Entwicklung in Marburg auch vom hessischen Bund der Steuerzahler positiv beurteilt: "Man kann die Stadt beglückwünschen", sagt Kommunalreferent Hartmut Schaad. Marburg habe aber auch nie über seine Verhältnisse gelebt: "Die haben immer schon solide gewirtschaftet und sich nicht auf Glatteis zubewegt", meint Schaad.

Trotzdem betont Vaupel lieber die anderen Reichtümer der Stadt: In den vergangenen Monaten wurde sie als Hauptstadt des Fairen Handels, als Ort der Vielfalt, für seine Photovoltaik-Dächer und von einer christlich-muslimischen Friedensinitiative ausgezeichnet: "Diese Stadt lebt heute noch in der Philosophie der heiligen Elisabeth", behauptet der Sozialdemokrat. Dagegen meint Georg Fülberth von der Marburger Linken: "Marburg wird vom Kapital regiert." Weil ein großes Unternehmen "gezuckt" habe, sei der Hebesatz für die Gewerbesteuern gesenkt worden.

Die Einnahmen gehen aber selten in Prestigebauten. Marburg steckt sein Geld vor allem in Schulen, Kindergärten und Verkehr. Deswegen ist die Universitätsstadt hessischer Spitzenreiter bei der Betreuung der unter Dreijährigen. Aktuell nutzt Marburg die Konjunkturpakete von Bund und Land massiv. "Wir investieren in die Zukunft der Stadt, damit die Hightech-Unternehmen auch in Zukunft genügend Fachkräfte bekommen", sagt Vaupel.

Marburg wächst seit Jahren entgegen dem Trend. Mit 81 000 Einwohnern hat die Stadt das eigentlich bedeutsamere Gießen längst überrundet. In den vergangenen neun Jahren wurden 3000 neue Arbeitsplätze – ein Plus von knapp neun Prozent – geschaffen: "Damit belegen wir einen Spitzenplatz in Hessen", freut sich der Chef der Agentur für Arbeit, Waldemar Droß: "Wir können den Leuten Stellen anbieten."

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 8. Oktober 2009

Labor der Avantgarde

Die Probebühne für das Theater der Zukunft feiert Jubiläum: Das Gießener Theaterfestival "Diskurs" wird 25

Eine Kirche verwandelt sich in einen Zoo. Aus einer Theateraufführung wird ein Workshop für Volkslieder mit Salzbrezeln und Bier. Ein nichtsahnendes Kinopublikum wird ganz plötzlich zum Teil einer Opernverfilmung: Bei der 25. Auflage des Gießener Theaterfestivals "Diskurs" ist alles möglich, Hauptsache es geht nicht wissenschaftlich verkopft zu. "Die Aufführungen sollen ein sinnliches Erlebnis werden – bei dem die Zuschauer mit Spiel, Spaß und Freude dabei sind. Das war uns bei der Auswahl der Produktionen wichtig", sagt Verena Billinger vom Festival-Organisationsteam.

Einen inhaltlichen Schwerpunkt gibt es beim 25. Jubiläum des jährlich von GießenerTheaterwissenschafts-Studierenden veranstalteten Festivals für europäische Nachwuchskünstler allerdings nicht: "Wir wollten uns ganz bewusst nicht einschränken. Die aus über 200 Bewerbungen eingeladenen Produktionen zeigen die neuesten Tendenzen in der Performanceszene Europas", berichtet Billinger.

Zum Jubiläums-Festival seien zwölf Produktionen aus Island, Estland, den Niederlanden, Großbritannien, Dänemark,Schweden, der Schweiz, Österreich, Italien und Deutschland eingeladen, zählt ihre Kollegin Sylvia Lutz auf. Das Besondere: "Das sind alles Performances oder Installationen, die man an keinem Stadttheater und auch nicht beim Berliner Theatertreffen oder anderen großen Festivals sehen kann", unterstreicht Billinger. Denn was beim Diskurs gezeigt wird, sind Experimente, teilweise auch unfertige Stücke, die die jungen europäischen Theatermacher hier zur Diskussion stellen. Dafür ist das Gießener Festival weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

Immerhin haben in unserer Lahnstadt schon Theatergrößen wie Robert Wilson, Heiner Müller oder George Tabori gelehrt und geprobt. Dass etwa der DDR-Dramatiker Müller 1984 bei seinem erstem Auftritt als Gastdozent an einer West-Hochschule ausgerechnet im unspektakulären Gießen landete, hatte seinen guten Grund: Hier war zwei Jahre zuvor an der Justus-Liebig-Universität ein Studiengang unter Leitung des international renommierten Theaterwissenschaftlers Andrzej Wirth eingerichtet worden, der seines gleichen in der Bundesrepublik suchte und bis heute sucht: Statt Shakespeares Bühnenanweisungen oder Brechts Modellbücher schlicht zu studieren, geht's auf der extra eingerichteten Probebühne für die Adepten der "Gießener Schule" bei eigenen szenischen Arbeiten auch in der Praxis zur Sache. Da wird der Scheinwerfer selbst gesetzt und das Bühnenbild auch schon mal selber gebastelt. Kunst machen und wissenschaftlich Forschen haben am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft nach dem anglo-amerikanischen Vorbild der "Drama Departments" den gleichen Stellenwert. Ein Konzept, das die "Gießener Schule" schnell zum Prädikat für Theater außerhalb des Mainstreams und zum Labor der Avantgarde machte.

Freilich gelten die Propheten der neuen Theaterwelt wenig im eigenen Land. In Gießen wird in der Regel nur beim Diskurs-Festival von den Theaterwissenschaftlern Notiz genommen – wenn die Performer beispielsweise eine Kirche in einen Zoo verwandeln.

Infos: www.diskursfestival.de

Georg Kronenberg

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