Express Online: Thema der Woche | 29. Oktober 2009

20.000 Hinrichtungen

Deserteure, "Wehrkraftzersetzer" und "Kriegsverräter" sind die vergessenen Opfer der braunen Militärjustiz: Die Wanderausstellung "Was damals recht war" zeigt den Umgang mit Soldaten und Zivilisten.

In der sogenannten Schirne des Marburger Rathauses engen freistehende Säulen den ohnehin geringen Raum noch mehr ein. Darauf prangen Lebensläufe von Verurteilten im Dritten Reich. In den noch engeren, geöffneten Zellen erzählen Tafeln von der Geschichte, die sich hier vor nicht einmal 60 Jahren abspielte. Kalte Atmosphäre herrscht in den ohnehin schon kalten Mauern. Es ist der erste Tag der Ausstellung über die Unrechtsurteile der braunen Militärjustiz.

Die Porträts, Bilder und Texte erinnern an die rund 20.000 Menschen, die durch Unrechtsurteile zwischen 1939 und 1945 ihr Leben verloren. Stellvertretend für diese stehen die Biographien von 14 Verurteilten. Und die von fünf Richtern. Sie demonstrieren, wie leicht es war, Opfer der Wehrmachtsjustiz zu werden. Und wie man nach 1945 trotz unrechter Rechtssprechung noch Karriere machen konnte.

Der einführende Teil im Saal 1 stellt die Grundlagen der Militärjustiz dar, die u.a. in Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wurzelten, den man der damaligen Annahme nach durch die Wehrkraftzersetzerverloren hatte. Die Justiz unter Hitler ist in einer Raum-in-Raumkonstruktion dargestellt, die unmittelbar mit der Karriere der ehemaligen Richter nach Zusammenbruch des Dritten Reichs verbunden ist.

Bei der Eröffnung am vergangenen Sonntag nahm neben dem Kurator der Wanderausstellung Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" und dem Bundesjustizminister a. D. Hans-Jochen Vogel auch ein Zeitzeuge teil: Ludwig Baumann, der selbst Opfer von Folterungen wurde, weil er niemanden verraten wollte. In seinem bewegenden Bericht stellte der Vorsitzende der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz auch seinen Kampf um Rehabilitierung nach 1945 dar: "Wir sind wirklich an diesem Staat verzweifelt." Tatsächlich wurden diejenigen, die im Regime als Deserteure oder Wehrkraftzersetzer verurteilt wurden, lange Zeit noch als Vaterlandsverräter verschrieen. Eine besondere Perfidie: Erst im Mai 2002 hob der Bundestag viele Urteile der Wehrmachtjustiz auf. Bis dahin galten Verurteilte als vorbestraft, während die meisten Richter ungeschoren davon kamen und sogar Karriere machen konnten.

Der Ausstellung ging eine intensive Archiv- und Forschungsarbeit voraus, an der die Geschichtswerkstatt Marburg, die die Ausstellung ins Rathaus geholt hat, beteiligt war. Die Kooperation der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" und der Bundeszentrale für politische Bildung ist seit mehr als zwei Jahren in deutschen Städten zu sehen. "Marburg ist ein Novum für uns", so Ulrich Baumann, "weil hier ein historischer Ort hinzutritt, nämlich die Zellen der Marburger Schirne." Ebenfalls ein Novum sind die im Ausstellungsrahmen eingebetteten Lehrerfortbildungen.

Was damals recht war ..." betreibt keine Glorifizierung des Destierens. Die vorgestellten Soldaten werden zu eher passiven Widerstandskämpfern, die das nationalsozialistische System nicht weiter unterstützen wollten, Angst um ihre Familien hatten oder einfach kriegsmüde waren. Somit klagt die Ausstellung weder an, noch überhöht sie das Dargestellte. Neben den zahlreichen Tafeln und dem enormen Textangebot gibt es multimediale Video- und Audiostationen, an denen sich die Besucher näher mit einigen Lebensläufen auseinandersetzen können.

Bürgermeister Franz Kahle erwähnte bei der Eröffnung, die Ausstellung sei "sehr geeignet, junge Menschen zum Nachdenken anzuregen". Zu überlegen wäre, ob durch eine weniger große Textfülle die Plastizität der Darstellung gerade für junge Menschen hätte gesteigert werden können. Dennoch liefert die Ausstellungeinen wichtigen Beitrag zur Rehabilitierung der Opfer. "Ich bin zuversichtlich, dass die Ausstellung dazu beitragen wird", war sich Bundesjustizminister a. D. Hans-Jochen Vogel sicher.

Die Ausstellung läuft bis zum 22. November, Dienstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Besucherservice und Führungen unter 06421/201400. Das Zusatzprogramm mit Vorträgen zu bestimmten Themen liegt im Rathaus aus.

sfs


Express Online: Thema der Woche | 29. Oktober 2009

Große Formate

Eindrucksvolle Malerei von Anke Doberauer in der Kunsthalle / Eröffnung 30. Oktober

Ein Wintersemester der Rekorde: rund 4.500 Erstsemestern an der Justus-Liebig-Uni sind der dritte Einschreibungs-Höchststand in Folge. Bei der FH Gießen-Friedberg sind 2.437 Studienanfänger ebenfalls neuer Spitzenwert. Kurz: Gießen ist eine Studentenstadt – laut einer Studie sogar bereits seit Jahren die Stadt, mit der höchsten Studierendendichte in Deutschland.

Den Stellenwert der Studierenden in der Stadt mit zwei Hochschulen reflektiert die Ausstellung von Malerin Anke Doberauer in Gießens neuer, repräsentativer Kunsthalle im Kulturrathaus am Berliner Platz. Denn im Mittelpunkt einer von drei ausgestellten Werkgruppen Doberauers stehen die Studierenden: In der Porträtserie "16 Studenten" verbindet die Kunstprofessorin Doberauer ihre eigene Existenz als Malerin mit ihrer Arbeit als Lehrende und fügt dieser eine ganz neue Dimension hinzu, in der die Begegnung von Lehrer und Lernenden auf eine heute durchaus ungewöhnliche Weise erweitert wird. Durch den zeitintensiven Prozess des Malens und Beobachtens entsteht ein besonderer Dialog mit den Studierenden. Ebenso stellt sie sich mit ihrer Porträtmalerei der Kritik der von ihr porträtierten Studenten ganz unmittelbar. "Gerade in der Kunsthalle der Universitätsstadt Gießen, mit ihrem hohen Anteil von fast 20 Prozent studentischer Einwohner, kann diese Porträtserie einen besonderen Sinn entfalten: Ganz ähnlichen jungen Menschen könnte man ebenso hier auf den Straßen oder auf dem Campus der Justus-Liebig-Universität begegnen", sagt die neue städtische Kuratorin Ute Riese zur ersten Ausstellung, die sie in die Kunsthalle geholt hat.

Dort präsentiert sie eine Malerin, die im nahen Bad Homburg geboren und aufgewachsen ist und mit ihrer sehr individuellen malerischen Konzeption seit über 20 Jahren auf dem internationalen Markt erfolgreich arbeitet: Anke Doberauer, geboren 1962, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig Malerei, schloss dort 1991 als Meisterschülerin ab und ist seit 2003 selbst Professorin für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Ihre Ausstellung zeigt mit drei Werkgruppen, drei großformatigen Panoramabildern und sechs Einzelbildern unterschiedlichen Formats, dass auch in einer Zeit, in der fast kein Handy mehr ohne Foto- und Videokamera auskommt, nicht nur die Fotografie und der Film diejenigen Medien sind, die unser Erleben und unseren Alltag dokumentieren, kommentieren und archivieren, sondern auch die durch eine jahrtausendalte Erfahrung angereicherte künstlerische Technik der Malerei immer noch ihren Platz behauptet – und eigene, unverwechselbare visuelle Erlebnisräume für den Betrachter erzeugt. So ist für Doberauer Malerei "das sinnlichste der Medien" und die Künstlerin überzeugt: "Malerei und Fotographie haben ein völlig unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Das Foto kann immer nur Vergangenes wiedergeben, die Malerei dagegen zeigt Gegenwart."

In ihrem spektakulären acht Meter breiten und zwei Meter hohen Gemälde "Sunset" mit seinen elf lebensgroßen Rückenfiguren, welches erstmals 2006 auf der Art Unlimited in Basel präsentiert wurde, wird ihre malerische Konzeption auf einen Blick deutlich: Anke Doberauers verbindet eine klassisch angelegte, akademische Ölmalerei mit Bezug auf traditionelle malerische Motive und Genres (Rückenfigur, Porträt, Profilansicht, Panoramathema) mit modernen Methoden der Bilderzeugung und Bildwiedergabe. Doberauers Malerei bezieht die aktuellen Möglichkeiten und Erscheinungsformen der Bildentstehung von digitaler Optik und Fototechnik mit ein und gewinnt daraus ihre zeitgemäße Bedeutung. Der Verweis auf RGB-Farbräume, die als Grundlage zur Darstellung von Farbbildern mittels Bildschirmen, Displays und Videoprojektoren dienen oder der Einsatz von Neonleuchtfarben zeigt Doberauers Reflexion des Mediums Malerei und ihrer Durchdringung von traditioneller und zeitgenössischer malerischer Technologie.

Für die Gießener Ausstellung ist ein ganz neues großformatiges Gemälde entstanden, das in Korrespondenz mit "Sunset" eine eindrucksvolle Kombination ergibt. Das ca. sechs Meter breite und drei Meter hohe Bild "Die Badenden" entstand diesen Sommer in Marseille unter dem Einfluss des spezifischen Lichts Südfrankreichs und der mediterranen Atmosphäre. Es greift ebenfalls einen traditionsreichen Bildtypus auf, der bereits von der Antike bis hin zu Cézanne und Picasso bearbeitet wurde und formuliert diesen für die heutige Zeit neu. In der Werkentwicklung von Anke Doberauer tauchen hier neue Aspekte auf, so eine dynamischere Darstellung der Figuren.

Die großräumige Szenerie der neugebauten Kunsthalle nimmt die raumgreifenden Formate Anke Doberauers in sich auf und bietet ihnen eine Bühne, in dem diese zugleich traditionelle und zeitgemäße malerische Konzeption zur Geltung und Entfaltung kommen kann.

Termine in der Kunsthalle: 30. Oktober: 19.30 Uhr Ausstellungseröffnung, 8. November: 11.30 Uhr Kuratorenführung mit Ute Riese, 6. Dezember: 15 Uhr Künstlergespräch mit Anke Doberauer und Vorstellung des Katalogs zur Ausstellung. Infos: www.kunsthalle-giessen.de

pe/kro

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