Express Online: Thema der Woche | 19. November 2009

Widerstand war zwecklos

Vor 20 Jahren entschied die damalige rot-grüne Stadtregierung den Abriss des Biegenecks, um Marburgs "Neuer Mitte" Raum zu schaffen. Ein Dokumentarfilm lässt die Ereignisse noch einmal aufleben. Biegeneck-Aktivist Thomas Gebauer erinnert sich.

Express: "Biegeneck – Kampf um ein Kleinviertel" wurde in den Jahren 1990 bis 1993 gedreht. Was waren damals die Beweggründe?
Thomas Gebauer: Zunächst wollten wir die Geschichte der Auseinandersetzungen um den Erhalt des Biegenecks dokumentieren. Die Menschen, die sich auf die Seite der Biegeneckinitiative stellten, übten mit ihrem Einfallsreichtum und ihrer Widerständigkeit eine große Anziehung und Überzeugungskraft innerhalb der Marburger Öffentlichkeit aus, weil sie ihre eigene Geschichte in die Hand nahmen und verteidigten. Das war faszinierend und inspirierte die Idee, diese Geschichte am Leben zu erhalten. Gleichzeitig hatten wir auch begriffen, wie wichtig das von uns gesammelte Filmmaterial innerhalb von politischen und juristischen Konflikten werden konnte, in denen die mächtigeren Konfliktpartner es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen.

Express: Was bekommen die Zuschauer im Film zu sehen?
Thomas Gebauer: Der Biegeneckfilm zeigt zum einen die Chronologie der Ereignisse am Biegeneck und dokumentiert neben den städteplanerischen Potentialen auch die sozialkulturellen Energien der Menschen, die sich für den Erhalt ihrer Wohn- und Arbeitsstätten dieses facettenreichen Quartiers im Herzen von Marburg einsetzten. Professor Andras Roman, der damalige Präsident des Weltverbandes für Historische Städte der UNESCO wird als Befürworter des Biegenecks zu sehen sein, der Rechtsanwalt Peter Becker als Vermittler zwischen den Konfliktparteien,aber auch Joschka Fischer als hessischer Umweltminister, der ehemalige Oberbürgermeister Drechsler oder die Fraktionsmitglieder der Marburger Grünen – wie sie von ihrer eigenen Basis im KFZ mit Eiern beworfen werden.

Express: Wer war damals außer dir noch an den Dreharbeiten beteiligt und wie wurde der Film produziert?
Thomas Gebauer: Arno Uth, selbst bildender Künstler, beteiligte sich an den Kunstausstellungen, mit denen wir die Potentiale der Stockschen Zentrifugenfabrikhalle im Biegeneck der Marburger Öffentlichkeit zugänglich machten. Arno Uth brachte den Journalisten Tobias von Heymann mit, und fortan filmten die beiden zu jeder Tages- und Nachtzeit nicht nur den Verlauf der Konfliktgeschichte um das Biegeck, sondern recherchierten auch explosive Hintergrundinformationen, die bis heute nicht an Brisanz verloren haben.Aber auch Iris Lachtrup von der Medienwerkstatt Abraxas und viele andere Menschen sind aus dem Biegeneck-Filmprojektnicht wegzudenken. Ohne ihre Arbeit und Ausdauer wäre der Film nicht zustande gekommen.

Express: Hat der Film im Jahr 2009 eine Bedeutung über die bloße historische Dokumentation hinaus?
Thomas Gebauer: Wenn sich die Menschen in Marburg fragen, warum ihre Stadt nicht ins Weltkulturerbe aufgenommen wird, dann finden sie im Biegeneck-Film auch heute noch einige Antworten. Wenn wir uns fragen, wie wir Menschen in Prozesse und Entscheidungen der Stadtplanung und generell in die Gestaltung von humaneren gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven integrieren können, dann bietet der Film auf der mikrokosmischen Ebene einige Impulse und Ideen, wie sich Bürgerbeteiligung und Zivilcourage zu einer politischen Kraft entwickeln kann. Mitbestimmung und politisches Mandat von Menschen, die sich ihre Lobby selbst erarbeiten müssen,anstatt Anpassung und Schicksalsergebenheit; der Biegeneck-Film transportiert Zeugnisse, wie es gehen könnte.

Express: Rückblickend betrachtet: Hat sich das Engagement der Biegeneck-Bewegung damals gelohnt?
Thomas Gebauer: Wer Geschichte verdrängt, riskiert den Verlust seiner Identität. Allein die vielen Freundschaften und zwischenmenschlichen Netzwerke, die aus dem Konflikt um das Biegeneck entstanden sind und bis heute in den sozio-kulturellen Zusammenhängen Marburgs tragfähig und wirksam Synergien generieren, sprechen dafür, dass die Biegeneck-Bewegung in ihrer Bedeutung nicht aus der jüngeren Marburger Stadtgeschichte wegzudenken ist.

Express: Was sind Deine Empfindungen, wenn du heute durch Marburgs Neue Mitte spazierst?
Thomas Gebauer: Vordergründig können die Marburger zufrieden sein, dass sie überhaupt so etwas wie ein funktionierendes Stadtgebilde in Marburg-Mitte bekommen haben, das auch von den Menschen angenommen wird. Vergleichbare städteplanerische Desaster in anderen Städten führten aus Mangel an Ressourcen oft zu Parkplätzen anstatt zu bezahlbarem innerstädtischen Wohn-, Arbeits- und Lebensräumen, an denen alle Menschen teilhaben und teilnehmen können. Unsere Gegenwart braucht vermehrt die Arbeit von Erinnerungskulturen und das Bewusstsein von Ursprüngen jenseits von kapitalintensiven Denkweisen, damit gesellschaftliche Zusammenhänge wie Wohnungsnot, Armut und Ausgrenzung durch solidares Denken und Handeln überwunden werden können.

Dokumentarfilm "Biegeneck – Kampf um ein Kleinviertel" (103 Min.), Mi 25.11. 21.00, Nachtsalon. Die Vorführung ist ein Teil der Veranstaltung "Gleis 1ah!" vom 23.11. bis 27.11.

Interview: Michael Arlt


Express Online: Thema der Woche | 19. November 2009

Ausgezeichnete Blutsauger

Hessische Gründertage
Die Gründertage werden vom hessischen Wirtschaftsministerium mit EU-Mitteln gefördert und seit 2003 jährlich in wechselnden Gastgeberstädten durchgeführt. Mit zahlreichen Informationsveranstaltungen über erfolgreiche Strategien zur Existenzgründung, Steuerrecht, Produktmanagement sowie Unternehmersprechtagen und Beispielen erfolgreicher Gründungen sollen die Gründertage Mut zum Schritt in die Selbständigkeit machen und dazu beizutragen, dass mehr Menschen erfolgreich eine selbstständige Existenz aufbauen. Die Gründertage sollen zudem eine Plattform für den Erfahrungsaustausch zwischen Experten und Gründern sein. Infos: www.gruendertage-hessen.de
Preisträger der 7. Gründertage
Kategorie "Mutige Gründung"
Sieger: Kay Trumpler, TMS Maschinebau und Service, Wetzlar
weitere Preisträger: Dr. Barbara Högy, Pharmadienstleistungen, Staufenberg
Marina Schapiro, Institut für Elternbildung und interkulturelle Mediation, Herborn
Kategorie "Geschaffene Arbeitsplätze"
Sieger: Biebertaler Blutegelzucht, Biebertal
weitere Preisträger:
Matthias Nowakowski, VKM Catering, Schwalbach/Taunus
Timo Vernieks, Traco Transportvermittlung und Spedition, Butzbach
Kategorie "Intelligente Geschäftsidee"
Sieger: Thorsten Dresing und Thorsten Pehl, audiotranskription.de, Marburg
weitere Preisträger:
Matthias Jackel, Drum Cafe, Dietzenbach
Dr. Markus Krechting, CODE-No.com GmbH, Frankfurt
Biebertaler Blutegelzucht und weitere mittelhessische Firmen bei den Hessischen Gründertagen prämiert

Ich bin mächtig Stolz, dass wir es zusammen mit unseren 20 Mitarbeitern und Millionen unbezahlten tierischen Helfern aus unserer Blutegelzucht bis zum Kategoriesieg des hessischen Gründer-Oskars geschafft haben", freute sich Harald Galatis von der Biebertaler Blutegelzucht. Die Arzneimittelfirma, die täglich rund 1000 der medizinisch wertvollen Blutegel an Ärzte und Heilpraktiker sowie Veterinärmediziner in ganz Europa verschickt, hat beim Finale der 7. Hessischen Gründertage in der Kategorie "Geschaffene Arbeitsplätze" alle Mitbewerber hinter sich gelassen.

Anfang 2008 aus der Beschäftigungsgesellschaft ZAUG ausgegründet, hat der Betrieb mit insgesamt 16 Vollzeit-Arbeitsplätzen nicht weniger als zwölf ehemalige Ein-Euro-Jobber in Lohn und Brot gebracht. In Europas größter Blutegelzucht, die die etwa bei Gelenkerkrankungen wie Kniegelenksarthrose oder Durchblutungsstörungen eingesetzten Tiere gelegentlich sogar bis nach Chile oder Korea verschickt, widmen sich ehemalige Buchhalter, Geologen, Psychologen oder auch Tierärzte der Blutegelaufzucht. Die einstigen Harz-IV-Empfänger, von denen sich nicht wenige ausgestoßen aus der Gesellschaft gefühlt hätten, seien hoch motiviert und ein großer Gewinn für den Betrieb, unterstreicht Geschäftsführer Harald Galatis: "Unsere Mitarbeiter leisten hier Erstaunliches!"

Zum Finale der Hessischen Gründertage, die vom 14. August bis zum 12. November in Gießen veranstaltet wurden, waren Donnerstag vergangene Woche Gäste aus Politik, Wirtschaft und Institutionen aus ganz Hessen angereist. Die beiden weiteren Kategoriesieger, die bei der Veranstaltung im Gießener Rathaus gekürt wurden, stammen mit den Heimatstädten Wetzlar und Marburg ebenfalls aus Mittelhessen. In der Kategorie "Mutige Gründung" wurde Kay Trumpler von der Firma TMS Maschinenbau und Service in Wetzlar ausgezeichnet. Der gelernte Maschinenschlosser und Industriemeister mit 31 Jahren Berufserfahrung hat seine Servicefirma für Produktionsmaschinen und optische Messgeräte aus der Arbeitslosigkeit heraus gegründet.

Im Bereich "Intelligente Geschäftsidee" siegten Thorsten Dresing und Thorsten Pehl aus Marburg, die eine Software zur Transkription von wissenschaftlichen Texten entwickelt haben und die Internetplattform audiotranskription.de betreiben.Nach Unternehmensgründung haben die beiden beeindruckende Wachtumsraten hingelegt. Im Jahre 2007 40 Prozent, 2008 100 , 2009 70 Prozent. In diesem Jahr (2009) wollen sie einen siebenstelligen Umsatz erreichen.

Insgesamt 60 Firmen waren bei dem Gründerwettbettbewerb angetreten, 36 davon waren mit ihren guten Firmenkonzepten ins Halbfinale gekommen.

Die Zeiten in denen man sich auf seinen Produkten und Leistungen ausruhen konnte, sind vorbei", mahnte Hessens Wirtschaftsminsister Jörg Uwe Hahn (FDP) bei der Preisverleihung und rief zu mehr Mut auf, wie ihn die Bewerber um die undotierten Gründerpreise bewiesen hätten. Die Gründertage Hessen seien eine beispielhafte Veranstaltung mit vielen kreativen Ideen. Für die hessische Landesregierung sei es wichtig, dass hier gerade kleine und mittelständige Unternehmen ausgezeichnet würden, die die meisten Arbeitsplätze schaffen und bereitstellen würden.

kro/pe

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