Express Online: Thema der Woche | 10. Dezember 2009

Neuer Stil

OB-Wahl 2009
Mit einem so deutlichen Wahlsieg hatte selbst SPD-Spitzenkandidatin Dietlind Grabe-Bolz kaum gerechnet: Bei der OB-Wahl am 7. Juni erhielt die seit 1994 für die Sozialdemokraten im Stadtparlament sitzende Pädagogin, die bis November bei der Kreisvolkshochschule arbeitete, 55,5 Prozent. Amtsinhaber Heinz-Peter Haumann (CDU) kam nur auf 44,5 Prozent der Wählerstimmen (Wahlbeteiligung: 43,4 Prozent).
Einfach ist die Ausgangslage für die 52-jährige sozialdemokratische Rathauschefin in der 74.000-Einwohner-Stadt Gießen freilich nicht: Im Stadtparlament ist ihre Partei seit der Kommunalwahl 2001 in der Opposition. Seit 2006 wird Gießen von einer Koalition aus CDU, Grünen und FPD regiert.
Sitzverteilung im Stadtparlament: CDU: 21 Sitze, SPD: 20, Grüne: 8, die Linke: 4, FDP: 3, Freie Wähler: 2, BLG: 1.
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Ab Sonntag hat Gießen erstmals eine Rathauschefin: Im Express-Interview spricht die designierte Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz (SPD) über das Regieren in einem Vier-Parteien-Magistrat und die Chancen bei der Zusammenarbeit mit der Koalition aus CDU, Grünen und FDP.

Express: Ihre Amtszeit beginnt am Sonntag. Was ist ihre erste Amtshandlung?
Grabe-Bolz: Etwas, das man gar nicht mit einer Oberbürgermeisterin verbindet: Ich werde am Sonntag um 7.21 im Gießener Bahnhof das Startsignal für eine neue Zugverbindung geben und den Eurocity anpfeifen, der Gießen ab dem 13. Dezember direkt mit Zagreb verbindet. Nachmittags werde ich bei dem jüdischen Channuka-Fest eine Kerze auf dem Kirchenplatz anzünden.
Ab Montag stehen dann viele Gespräche und Termine an: Ich werde mich mit meinen Dezernenten-Kollegen abstimmen, mich mit den Abläufen in der Stadtverwaltung vertraut machen, mit den Mitarbeitern reden – um verwaltungsintern zu signalisieren, dass ich selbstverständlich für alle ansprechbar bin.

Express: Stichwort Dezernatsverteilung: Als SPD-Oberbürgermeisterin haben sie zwar keine Mehrheit hinter sich, können aber die Aufgabenverteilung im Magistrat bestimmen. Wie sieht die neue Dezernatsverteilung aus? Welche Ämter übernehmen sie?
Grabe-Bolz: Das werde ich erst Anfang kommender Woche öffentlich vorstellen. Bevor ich die neue Aufgabenverteilung bekanntgebe, will ich erst die jetzigen Dezernenten informieren.

Express: Steht für sie schon lange fest, welche Aufgabenbereiche sie übernehmen?
Grabe-Bolz: Nein, das ist in mir noch bis vor ein paar Tagen gewachsen. Wobei immer völlig klar war, dass es bestimmte Bereiche gibt, um die ich mich als Oberbürgermeisterin einfach kümmern muss – bei der schwierigen Situation in der sich Gießen befindet.

Express: Bei ihrer Vereidigung haben sie die desaströse Finanzlage der Stadt hervorgehoben und einen Kassensturz angekündigt. Wollen sie ihren Amtsvorgänger Haumann als Kämmerer beerben?
Grabe-Bolz: Die Finanzen der Stadt sind ein ganz zentraler Bereich, in dem die Oberbürgermeisterin Einblick und Überblick haben muss – und auch die nötigen Steuerungsmöglichkeiten. Hier sind leider in den vergangenen Jahren viele Fehler gemacht worden, etwa mit dem überteuerten Rathausbau.

Express: Und wie sieht es mit dem Bereich "Bauen" aus, den bisher Thomas Rausch (CDU) unter sich hat?
Grabe-Bolz: Das habe ich schon im Wahlkampf gesagt: Nachhaltige Entscheidungen für Gießens Infrastruktur, alles was relevant für die Stadtentwicklung ist, möchte ich unter meiner Federführung haben – und in Absprache und Abstimmung mit dem Baudezernenten steuern. Denn ich will ja vernünftig mit meinen Mitarbeitern zusammenarbeiten – und nicht gegen jemanden regieren, auch nicht gegen einen Dezernenten, der ein anderes Parteibuch hat.

Express: Im Wahlkampf haben sie sich für mehr Bürgerbeteiligung stark gemacht. Wie wollen sie die Gießener an der Politik beteiligen?
Grabe-Bolz: Bürgerinnen und Bürger sind Experten in eigener Sache und haben ganz viel Potenzial, dass sie einbringen können. Die Bürger wissen sehr genau, was vor ihrer Haustür passiert und was man verändern oder verbessern kann.
Es gibt genug Städte, die uns vorleben, wie man Bürgerbeteiligung praktizieren kann: beispielsweise Nürtingen, wo es für alle größeren Themen wie Stadtentwicklung, demographische Entwicklung, Sozialentwicklung Foren gibt, in denen interessierte Bürgerinnen und Bürger mitarbeiten.
In Gießen war das Problem, dass der Wunsch nach Information und/oder Beteiligung vom Magistrat damit beantwortet wurde, dass es entweder zu früh oder zu spät sei. Bestes Beispiel war die Informationsveranstaltung zum Großkino am Berliner Platz. Bei der gab es viele gute, konstruktive Vorschläge von den Anwesenden, beispielsweise von Architekten. Nur wollte der Magistrat diese Vorschläge nicht ernsthaft prüfen und umsetzen.

Express: Bei welchen Themen sollten die Bürger noch mitreden?
Grabe-Bolz: Da gibt es viele. Ich kann mir beispielsweise zum Bahnhofsvorplatz, der seit vielen Jahren alles andere alles Aushängeschild für Gießen ist, einen Ideenwettbewerb oder ein Forum mit mehreren Veranstaltungen vorstellen, in dem sich Bürgerinnen und Bürger einbringen. Das Thema "altengerechte Stadt" könnte mit einer längeren Veranstaltungsreihe aufbereitet werden.
Manchmal geht es aber auch ganz einfach um Informationen: In der Straße, in der ich wohne, hat die Stadt auf einer gesamten Straßenseite die Parkplätze entfernt. Dafür gab es auch gute Gründe. Nur sind die Anwohner vorher nicht informiert worden. Es wäre ganz einfach gewesen, rechtzeitig Infozettel in die Briefkästen zu stecken!

Express: Sie sehen Gießens neuen Vier-Parteien-Magistrat als "Chance". Schwer zu glauben, angesichts der tiefen Gräben zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien ...
Grabe-Bolz: Ich setzte auf einen neuen Umgangsstil – mit mehr Kommunikation und weniger Direktiven. Ich glaube, dieser Bereich ist im Gießener Magistrat verbesserungsbedürftig. Wir müssen mehr Offenheit zeigen – auch gegenüber unseren Gesprächspartnern wie beispielsweise den Hochschulen.
Und nach den positiven Vorgesprächen mit den drei Dezernenten habe ich den Eindruck, dass es gelingen kann, gemeinsame Wege trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtungen zu finden.

Express: Obwohl die CDU/FDP/Grünen-Koalition vielleicht gerade die Stelle ihres persönlichen Referenten wegkürzt – was eine Kampfansage wäre ...
Grabe-Bolz (lacht): Man kann das satirisch auflösen: Frauen sind für ihre Fähigkeit zu Multitasking bekannt. Und deshalb wird vielleicht angenommen, dass mich dieses eine X-Chromosom, das ich mehr als ein Mann habe, nicht nur zur Oberbürgermeisterin befähigt, sondern ich die Aufgaben eines persönlichen Referenten gleich noch miterledigen kann, anders als Herr Haumann ...
Nein, im ernst: Die Referentenstelle ist sogar explizit im Koalitionsvertrag von CDU, FDP und Grünen festgeschrieben. Wenn die Jamaika-Koalition die von Oberbürgermeister Haumann vorgenommene Stellenstreichung nicht korrigieren sollte, würde sie damit ein Stückweit den Wählerwillen unterlaufen – und mich in meiner Arbeitsfähigkeit einzuschränken versuchen.

Interview: Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 10. Dezember 2009

"Es wird viel zu wenig angepackt"

Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Arbeitsplätze: ungewöhnliche Ideen umzusetzen ist das Credo von Arbeits-Agentur-Urgestein Klaus-Eberhard Völzing.

Was hat Entwicklungshilfe im afrikanischen Sierra Leone, in Asien oder Südamerika mit der Zahl der Arbeitslosen in Marburg zu tun? Oder Umwelt- und Naturschutz mit Marburger Arbeitsmarktpolitik? Ziemlich viel, davon überzeugt einen Klaus-Eberhard Völzing schnell:"Mein Ziel war es immer, arbeitsmarktliches Handeln mit anderen Politik- und Handlungsfeldern zu verbinden", sagt der gerade in den Ruhestand verabschiedete operative Geschäftsführer der Marburger Arbeitsagentur. "Und da fallen mir sofort die Bereiche Entwicklungshilfe und Umweltschutz ein, die so wichtig für unsere Zukunft sind."

Bereits früh in den 1980er Jahren hat der quirlige Praktiker, der findet, "Menschen haben die tollsten Ideen, nur es wird viel zu wenig angepackt", Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) für Marburger eingerichtet, damit in Deutschland nicht mehr benötigte Medizintechnik in Dritte-Welt-Länder transferiert werden kann. Daraus ist etwa der gemeinnützige Verein "Technologietransfer Marburg" entstanden, der beispielsweise Röntgengeräte, Rollstühle oder auch Verbandmittel und diverse Laboreinrichtungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa liefert.

Ebenfalls schon vor einem Vierteljahrhundert, als "Umweltberater" eine noch unbekannte Spezies waren, hat das Marburger Arbeitsamt auf Völzings Idee zusammen mit dem Wetzlarer Naturschutzzentrum Arbeitslose für genau diesem Zukunftsberuf ausgebildet.

Die umwelt- und friedenspolitische Aufbruchstimmung Anfang der 80er sei der entscheidende Anstoß für ihn gewesen, neue Ansätze in der Arbeitsvermittlung auszuprobieren, erinnert sich der 66-Jährige. "Ich habe gedacht, lasst uns die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen quasi als Arbeitsplatzlabor nutzen. Lasst uns neue Projekte ausprobieren – und im Bedarfsfall auch korrigieren."

Dabei war "Menschen in Arbeit zu bringen" immer viel mehr als ein Beruf für den bekennenden "Nachtmenschen" Völzing, der immer bis spätabends aktiv ist. Als er nach dem Zusammenbruch der DDR zwei Jahre in Nord-Thüringen für den Aufbau von Arbeitsamtsstrukturen zuständig war, war Völzing in seinem Element. "Das war eine Zeit, in der die Herausforderungen ganz groß waren – da möchte ich keinen Tag davon missen. Ganz wichtig war, dass die Menschen schnell Geld bekamen – und natürlich Fortbildungen und Umschulungen, die kamen ja aus einem ganz anderen System."

Zurück in Marburg hat Völzing seinen Teil dazu beigetragen, dass die Marburger Agentur für Arbeit bundesweit zur Spitze gehört: Deutschlandweit kommt der Marburger Agenturbezirk aktuell auf Platz drei, was den Bestand der ungeförderten Stellen bezogen auf die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten angeht. Nur Emden und Hamburg stehen laut der Bundesagentur für Arbeit noch besser da.

Das Erfolgsrezept in Marburg ist für Völzing die sehr offensive Arbeitgeberausrichtung: "Wir warten nicht, bis bei uns das Telefon klingelt, sondern gehen direkt auf die Arbeitgeber in den Firmen zu und fragen nach."

Um Eltern mit kleinen Kindern bessere Chancen zu geben, um wieder ins Berufsleben einsteigen zu können, hat die Marburger Arbeitsagentur seit langem Teilzeitarbeitsplätze gefördert. Mit Erfolg: Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten im Marburger Raum ist der höchste in Deutschland. Die Teilzeitquote lag 2008 bei 25,5 (in Hessen bei 18,8 und bundesweit bei 18,2)

Dass bei dem agilen Praktiker auch jetzt, nach der Verabschiedung aus dem Berufsleben, kein Leerlauf aufkommt, versteht sich von selbst. Zum einen will sich Völzing mehr im Tierschutz engagieren, einem Schwerpunktthema seiner Frau. Zum anderen ist da natürlich die Arbeit an seiner zweiten Liebe", seinen Entwicklungshilfe-Projekten. Für dieses ehrenamtliche Engagement, die Gründung und den Ausbau der gemeinnützigen Vereine "Technologietransfer Marburg e.V." sowie "Terra Tech e.V.", ist Völzing erst im Februar von Bundespräsident Horst Köhler mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet worden. Und in der Entwicklungshilfe hat der rührige Neu-Rentner noch viel vor, etwa einige Zeit bei einem Entwicklungshilfeprojekt in Palästina zu arbeiten. "Außerdem habe ich mir vorgenommen, ganz stark Mitglieder für Terra Tech zu werben. Bisher hatte ich da Hemmungen, beispielsweise bei Mitarbeitern der Arbeitsagentur zu fragen – nicht dass es heißt, ich wolle sie unter Druck setzen. Aber jetzt bin ich im Ruhestand, jetzt kann ich loslegen", schmunzelt er.

Georg Kronenberg

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