Express Online: Thema der Woche | 13. Januar 2005

"Längstes Pissoir Marburgs"

Zur Person:
Jan-Bernd Röllmann
Der Stadtverordnete und FDP-Kreisvorsitzende wurde 1962 im westfälischen Werl geboren. Die ZVS zwang ihn zum Studium nach Marburg, seinem "siebten Wunsch", was er aber schon bald nicht mehr bereute. An der Philipps-Uni schloss er Jura ab und übernahm schon kurz zuvor das Restaurant "Alter Ritter".
Daniel Hajdarovic
Am 30. Januar wird ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Zur Auswahl stehen Bürgermeister Egon Vaupel (SPD), Lutz Heer von der CDU (siehe Express Nr. 50/2004), Pit Metz (PDS / Marburger Linke, Express 52/53), Dr. Gregor Huesmann von der Marburger Bürgerliste (Express 1/2005) und der Kandidat von FDP und BfM (Bürger für Marburg), Jan-Bernd Röllmann (FDP), den wir in dieser Ausgabe vorstellen

Express: Herr Röllmann, Sie sind unzufrieden damit, wie Marburg vermarktet wird, kritisieren u. a. die MTM (Marburger Tourismus und Marketing GmbH). Warum?
Jan-Bernd Röllmann: Ich habe gesagt, dass die MTM schläft, aber ich will es nicht nur an ihr festmachen. Das Problem ist: Marburg ist eine der schönsten Städte in Deutschland – aber kaum einer weiß es. Heute muss eine Stadt anders vermarktet werden: Uni und Emil von Behring reichen da nicht mehr. Marburg wäre von der innerstädtischen Infrastruktur her eine prima Stadt für Tagungen und Kongresse.

Express: Aber die Verkehrsanbindung ...
Röllmann: Marburg liegt nur eine Stunde von einem der großen Verkehrsknotenpunkte Europas entfernt. Aber wenn man die Stadt bekannter machen will, reicht es nicht, einmal im Jahr Feuerzangenbowle oder Marburger Frühling zu machen und das dann nur nach Gladenbach und Biedenkopf zu bringen. Zumal die Konkurrenz in Mittelhessen immer stärker wird: In Gießen entsteht ein neuer Shopping-Center. Und für die Arena Wetzlar habe ich jetzt schon Gutscheine geschenkt bekommen.

Express: Sie wollen jetzt aber keine Shopping Mall auf die Wiese setzen?
Röllmann: Nein, denn unsere Shopping Mall ist die Oberstadt. Und die möchte ich nicht als reine Kneipenmeile. Aber die Händler müssen lernen Nischen zu besetzen, so wie wir als Restaurant mit deutscher Küche mittlerweile auch eine Nische besetzen.

Express: Ihr Restaurant liegt am Steinweg / Ecke Ketzerbach. Warum wollen Sie als einziger OB-Kandidat nicht, dass die Ketzerbach zu einer Art Flaniermeile umgebaut wird?
Röllmann: Die Ketzerbach kann keine Flaniermeile werden: 100 Meter hin und her und darüber hinaus kommt nichts ... Wir brauchen nicht auf jeder Seite Bürgersteige in einer Breite von 5,5 bis 6 Metern. Und das anvisierte Wasserband wäre bald das längste Pissoir Marburgs. Ich bin ja auch für eine Umgestaltung, aber der besondere Branchenmix der Ketzerbach, wo man alles für den täglichen Bedarf auf engem Raum kaufen kann, muss erhalten bleiben. Das funktioniert nur bei guter Erreichbarkeit. Wir können nicht auf die Hälfte der Parkplätze verzichten. Und das Parken für die Anwohner muss verträglich gestaltet werden.

Express: Wenn Parkplätze wegfallen, können dann die Leute, die z. B. in ihr Restaurant wollen, nicht einfach im Oberstadtparkhaus parken? In anderen Städten wäre das normal. Sollte die Politik hier nicht zum Umdenken anregen?
Röllmann: Das angesprochene Parkhaus ist 300 Meter entfernt. In Frankfurt wäre das eine tolle Lage. Aber in kleinen und mittleren Städten denken die Leute anders. Und ein Prozess des Umdenkens, für den eine Generation vielleicht nicht ausreicht, kann ein mittelständisches Unternehmen nicht verkraften.

Express: Sie argumentieren aus Sicht der Gewerbetreibenden und haben bei anderer Gelegenheit eine Stärkung des MAK (Markt- und Aktionskreis) gefordert. Außerdem wollen Sie das Engagement städtischer Unternehmen zugunsten des hiesigen Handwerks zurückfahren. Kandidieren Sie als Mann der Wirtschaft?
Röllmann: "Mann der Wirtschaft" ist falsch. Ich vertrete auch nicht zu 100 Prozent die Linie meiner Partei. Die FDP-Landtagsfraktion, die das Heil nur in der Privatisierung sucht, geht mir z. B. zu weit. Bereiche wie Strom, Gas und Wasser in der öffentlichen Hand ist OK, es darf aber nicht auswuchern. Die öffentliche Hand muss nicht als Bauherr auftreten. Und was bei der Umstruktierung der Stiftung St. Jakob als städtisches Unternehmen geschieht, ist nicht zielführend: Wenn die Stadt jedes Jahr eine halbe Million Euro reinsteckt, muss sie sich aus der Altenpflege in dieser Form zurückziehen.

Express: Und wie ist es mit der Privatisierung des Uni-Klinikums? Thomas Spies (SPD) meinte, Privatisierung könnte zu einer höheren Sterblichkeit im Klinikum führen.
Röllmann: Ich finde es zynisch, was Spies da sagt. Wenn ich etwas beweisen will, finde ich für alles irgendwo eine Studie. Was aber die Privatisierung betrifft: Eine Veränderung des jetzigen Systems war nötig. Ich kritisiere aber das Procedere der letzten eineinhalb Jahre. Und die Zusage von Koch, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen bis 2010 gibt, ist lächerlich: es gibt eine so hohe Fluktuation im Klinikum, so viele Zeitverträge, dass der Investor natürlich das Personal senken kann.

Express: In der Kultur wollen Sie weg vom Gießkannenprinzip. Schwerpunktbildung hieße aber auch, Einrichtungen dicht zu machen, oder?
Röllmann: Da muss man differenzieren. Die Kunsthalle z. B. hat nur 6.000 Besucher im Jahr, von denen jeder bisher mit 35 Euro bezuschusst wurde. Das können wir so nicht aufrechterhalten. Aber die Kunsthalle ist ein goldenes Kalb, weil der Vorsitzende der ehemalige Bürgermeister Pätzold ist. Das KFZ dagegen hat 40.000 Besucher und wird mit etwa 3,50 Euro pro Kopf bezuschusst. Und in ihrer schwierigen Finanzlage haben die sich mit ihrer Heldenkampagne im Unterschied zur Kunsthalle was einfallen lassen. Jetzt bauen wir für eine halbe Million für Café Trauma und german stage service am Afföller, aber die lasten mit ihrem bisherigen Programm die Räume nicht aus. Ich will nicht sagen: Wir machen dies oder das dicht. Aber man muss auch über Synergien nachdenken: Braucht z. B. jeder dieser beiden Betriebe eine eigene Verwaltung?

Express: Was erwarten Sie von der OB-Wahl?
Röllmann: Die Kandidatenlage eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Da Herr Heer sehr spät präsentiert wurde und nicht so bekannt ist, eröffnen sich auch den anderen bürgerlichen Kandidaten bessere Möglichkeiten. Es ist absolut nicht geklärt, wer mit Vaupel in die Stichwahl geht. Der wesentliche Punkt ist, dass nicht auch noch das oberste Amt rot-grün besetzt wird.

Express: Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Daniel Hajdarovic


Express Online: Thema der Woche | 13. Januar 2005

NAHsowas???

Info:
tvnah
Das Programm von tvnah wird kostenlos auf dem digitalen Kanal 64 ausgestrahlt. Empfangen kann den Sender nur, wer entweder einen nagelneuen Fernseher besitzt oder sich zu seinem alten Gerät eine Set-Top-Box angeschafft hat.
Katrin Woitenas
Sex und Crime, Papst und Familie – unvereinbare Gegensatzpaare? Der Express stellt den neuen Fernsehsender tvnah vor, der in Heuchelheim seine Zelte aufgeschlagen hat und z. T. auch über Gießen berichtet

Mit Einführung des "Überall Fernsehens" (DVBT) am 6. Dezember 2004 startete auch der Sender tvnah sein Programm. Der Regionalsender, der in Hessen und Teilen von Rheinlandpfalz zu empfangen ist, hat sich zum Ziel gesetzt neue Wege zu gehen.

Geschäftsführerin und Gründerin des Senders ist Heike Nocker-Bayer. Die Journalistin ist vielen bekannt, da sie 15 Jahre für ARD und HR als Moderatorin tätig war und lange das Wetter bei der ARD im Wechsel mit Jörg Kachelmann moderierte. In einem Gespräch gibt sie nähere Auskunft über Entstehen und Arbeit des Senders:

Express: Frau Nocker-Bayer, woher kam die Idee einen Regionalfernsehsender zu gründen?
Nocker-Bayer: Ich hatte zu der Zeit eine Insider Information, dass einige Frequenzen frei werden würden. Daraufhin begann ich an der Idee zu arbeiten.

Express: Was genau bedeutet "nah"? Menschlich nah, regional nah ...?
Nocker-Bayer: "Nah" deckt bei uns ein großes Feld ab. Zum einen möchten wir nahe am Menschen sein. Wir gehen hinaus zu den Menschen, decken persönliche Schicksale auf und behandeln Themen, die den Menschen direkt "nah", also unter die Haut gehen. Dazu werden wir demnächst auch einen Psychologen im Studio haben, der Menschen bei ihren speziellen Problemen berät. Tvnah will aber noch mehr. Es will zeitnah sein. So moderiere ich zum Beispiel das Wetter gemeinsam mit einem Meteorologen, lade Experten ins Studio ein.

Express: Wie sieht die Zusammenarbeit mit ihren Partnern aus? Ihr Programm scheint zum Beispiel von der Kirche beeinflusst.
Nocker-Bayer: Nun, die Kirche spielt sicherlich eine Rolle bei uns. Wir sind jedoch kein Kirchensender und das Programm richtet sich nicht nach unseren Partnern. Im Gegenteil haben wir unsere Partner entsprechend unserem Konzept gewählt.

Express: Glauben Sie, dass speziell das Thema Kirche ausgerechnet Jüngere anspricht?
Nocker-Bayer: Überraschenderweise haben wir die Erfahrung gemacht, dass gerade jüngere Menschen sich auf alte Werte wie Kirche und Familie zurückbesinnen und auf eben diese Themen sehr positiv ansprechen.

Express: Welche anderen Schwerpunkte haben Sie sich gesetzt?
Nocker-Bayer: Wir wollen innovatives, qualitatives Fernsehen machen. Das heißt, dass wir auch Themen aufgreifen, die von anderen Sendern vernachlässigt werden. Beispielsweise bringen wir eine Reihe mit Randsportarten, unter anderem eine regelmäßige Rubrik "Behindertensport". Diese werden Sie kaum anderswo finden.

So weit die Geschäftsführerin. Entscheidend dürfte sein, ob die Behandlung dieser zum Teil doch eher konservativen Themen auf eine innovative Weise gelingt. Interessant klingt da beispielsweise, dass am 30.01.2005 der Journalist Andreas Englisch im Studio zu Gast ist. Englisch gehört zu den wenigen Privilegierten, die direkten Zugang zum Papst haben. Er wird am 30. Januar ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, berichten wie er mit dem Papst Schach spielt – kurz, uns den Papst als Menschen vorstellen.

Zudem werden auch alltägliche Themen behandelt. In einem Polizeireport geht es um die Prävention von Verbrechen vor – oder schlimmstenfalls hinter – der eigenen Haustür. Daneben gibt es eine Chartshow (Musiknah), Verbraucher-(Verbrauchernah) und Gesundheitstipps (Gesundheitsnah) sowie Dokumentationenpersönlicher Schicksale (Nahsowas).

Die Mitarbeiter sind zwischen 25 und 30 Jahren, wie der Moderator Thomas Naumann, und bis hinauf zu 75 Jahren, wie der Sportreporter Gerd Graf, den einige bestimmt von seiner Arbeit bei der Wetzlarer Neuen Zeitung kennen.

Das Jahr beschloss der Sender mit einer Silvesterparty in der Staufenberger Stadthalle. Man darf auch neugierig sein, was uns im nächsten Jahr an Aktionen des Senders erwartet. So wurden bei der Weihnachtstour dieses Jahr auch in Gießen und Marburg Weihnachtsstimmen und Klänge gesammelt und Gewinnspiele veranstaltet.

Wer sich näher informieren möchte, kann dies auf der Webseite www.tvnah.com tun. Dort findet man auch ein aktuelles Programm des Senders, der täglich von 20:00 bis 23:00 Uhr sendet.

Katrin Woitenas



Copyright © 2005 by Marbuch Verlag GmbH