Seit einem Vierteljahr dominiert die Corona-Pandemie das öffentliche Leben. Im EXPRESS-Interview erläutert Schulleiter Eugen Anderer, wie sich das Ge­schehen an der Musikschule Marburg entwickelt.

EXPRESS: Drei Monate Ausnahmezustand. Was hat sich in der Zeit getan?

Eugen Anderer: Anfangs war es schon sehr gespenstisch: Die Musikschule war leer, wir im Büro waren da, und durch den Kontakt mit dem Kollegen wussten wir, dass alle großen Aufwand betreiben, um Unterricht online möglich zu machen. Also, wir haben es nicht täglich hören und wahrnehmen können, aber rund herum passierte wahnsinnig viel. Irgendwie eine irreale Situation … Die Möglichkeit, die Musikschule wieder zu öffnen, kam dann Anfang Mai doch überraschend schnell. Die Freude war groß, nach sieben Wochen wieder zum Präsenzunterricht zurückkehren zu dürfen. Trotzdem musste Vieles organisiert werden, wenn Abstandsregeln eingehalten werden sollten: Wie gestalte ich die Wegeführung im Gebäude, wie viele Personen dürfen sich in welchen Räumen gleichzeitig aufhalten oder welches Instrument darf wo unterrichtet werden? Glücklicherweise gab es hier eine Handreichung des Verbandes Deutscher Musikschulen zum Thema Neustart. Außerdem hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mal auf die Jagd nach Sprühflaschen und Spendern für Desinfektionsmittel gehen würde.

EXPRESS: Wie ist die aktuelle Situation?

Eugen Anderer: Die Musikschule brummt und summt wieder wie ein Bienen­schwarm. Schüler und Lehrer waren sehr erleichtert, wieder Präsenzunterricht geben zu können. In der ersten Phase haben wir nur Einzel- und Klein­gruppen­unter­richt gemacht. Unsere großen Räume haben wir den Bläsern und Sängern zugeteilt, weil wir hier unbedingt auf größere Abstände achten müssen. Jetzt lassen wir im großen Saal auch Gruppen mit 10 Teilnehmern zu. Wir haben beispielsweise für die Kinder der musikalischen Früherziehung Plätze markiert, damit sie wissen, wo sie sich während des Unterrichts aufhalten dürfen. Die Gruppen sind so verkleinert, dass Eltern mitmachen können. Gleichzeitig haben uns Waggonhalle und KFZ dankenswerterweise Räume zur Verfügung gestellt, sodass wir Bläser und Sänger dorthin schicken können. Das gab uns dann im Haus die Möglichkeit, die Früherziehung wieder rein zu holen. Für die ganz großen Ensembles wie Chöre oder Bläsergruppen gibt es Überlegungen, in der warmen Jahreszeit Proben im Freien abzuhalten.

EXPRESS: Der Online-Unterricht findet darüber hinaus aber weiterhin statt?

Eugen Anderer: Ja. Es gibt nicht wenige Kollegen, die davon berichten, dass Schüler mit Online-Unterricht sehr fokusiert arbeiten können und große Fortschritte machen. Andere verzichten auch freiwillig während der Pandemie auf Präsenzunterricht. Und dann gibt es natürlich auch die Risikogruppen auf beiden Seiten …

EXPRESS: Gibt es Auswirkungen bei den Schülerzahlen oder beim Personal?

Eugen Anderer: Ja, es gab Abmeldungen wegen Corona. Aber die halten sich in Grenzen. Darüber hinaus mussten wir Unterrichtsformate wie unser Instru­men­ten­karussell beenden. Hier gibt es kaum eine Möglichkeit, es online anzubieten. Insgesamt aber sind wir bislang gut durch die Krise gekommen. Heikel wird es für uns dann, wenn wir nach den Sommer­ferien unser Angebot in Schulen und Kindergärten nicht wieder aufnehmen können oder sich wegen der Pandemie dauerhaft weniger Schüler anmelden. Vorerst freuen wir uns auf die Sommer­pause, denn das gleichzeitige Managen von Online- und Präsenzunterricht zehrt an den Kräften.

EXPRESS: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Schulen?

Eugen Anderer: Die Schulen waren in den Wochen des Neustarts zunächst selbst in der schwierigen Situation, ihren Pflichtunterricht so zu organisieren, dass er mit den Regeln der Kontaktbeschränkungen konform ist. Musik gehört leider nicht zu den Pflichtfächern, und so kann wegen der strengen be­hörd­lichen Auflagen unser Unterricht bis zu den Sommerferien nicht vor Ort stattfinden. Unsere Lehrkräfte haben aber in Zusammenarbeit mit den Kooperationslehrern an den Schulen alles versucht, den Unterricht über Online-Angebote weiter zu führen. Aus vielen Gesprächen mit Verantwortlichen weiß ich, dass unsere Arbeit hohe Wertschätzung genießt und man uns lieber heute als morgen mit Präsenzunterricht anfangen lassen würde. Aber das ist derzeit nicht möglich. Da es aus technischen Gründen kaum möglich ist, eine Gruppe von Schülern gleichzeitig per Video-Chat zu unterrichten, hoffen wir auf die Zeit nach den Ferien. Dann muss es im Präsenzunterricht weitergehen, wenn uns nicht gewachsene Strukturen wegbrechen sollen …

EXPRESS: Ist abzusehen, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird?

Eugen Anderer: Ich besitze noch immer keine Kristallkugel und ich habe zwischenzeitlich auch keinen Kurs im Vorhersagen bei einem etruskischen Haruspex belegt. Die jüngsten Ereignisse in Göttingen und Gütersloh haben gezeigt, wie fragil die Lage ist. Für unseren Einzel- und Kleingruppen-Unter­richt sehe ich unmittelbar zwar keine Gefahr, aber Veranstaltungen wie Kon­zerte, Workshops etc. halte ich in der bisher gewohnten Form besonders in der kommenden kalten Jahreszeit nicht für möglich, sollten sich die Kontakt­be­schränkungen und hier vor allem die Abstandsregeln nicht lockern. Corona wird uns hier wahrscheinlich wenig Spielraum lassen.

EXPRESS: Haben die vergangenen Wochen eigentlich auch positive Aspekte mit sich gebracht?

Eugen Anderer: Ja, und hier möchte ich nicht so sehr den Schub an tech­nischem Wissen anführen, den wir uns während der vergangenen Wochen erarbeitet haben. Was mich besonders freut und berührt sind die An­streng­ungen, die jeder auf seinem Posten unternommen hat, Kollegen, Schüler, Eltern sowie unsere Kooperationspartner, um diese Herausforderung zu meistern. Dafür an alle meinen herzlichen Dank!

EXPRESS: Welches sind die weiteren Planungen?

Eugen Anderer: Es wird nach den Sommerferien darauf ankommen, den Alltag in der Krise zu ermöglichen. Die Pandemie wird dann nicht vorüber sein. Das bedeutet für uns, dass wir unseren Unterricht – und hier meine ich vor allem den Ensembleunterricht oder die Früherziehung – so umstellen, dass er mit den Anforderungen der Pandemie-Eindämmung konform ist. Darunter fallen be­sonders die Erfüllung der Abstandsregel und die damit verbundene Not­wen­dig­keit, große Räume nutzen zu können. Mit unseren drei größeren Räumen im Erdgeschoss inklusive Saal kämen wir da nicht weit. Wir freuen uns hier über jede Unterstützung unserer Kooperationspartner.Kollegen probieren derzeit Programme aus, mit denen sich Gehörbildung trainieren lässt. Die Software erkennt, ob ein vorgegebenes Intervall vom Sänger richtig nachgesungen wird. Eine andere Möglichkeit bietet Software, die parallel zum Play-Along die Noten zum Mitspielen zeitgleich visualisiert. In Planung ist ein Online-Archiv, in das Lehrer für ihre Schüler Lernmaterial zum Üben und Nacharbeiten einstellen können.
Bei unseren aufsuchenden Angeboten in den Schulen sowie bei unseren inklusiven Projekten werden wir prüfen, ob die Digitalisierung und ihre viel­fältigen Möglichkeiten geeignet sind, Kinder und Jugendliche für Musik zu begeistern.

EXPRESS: Wie sieht es mit Veranstaltungen aus?

Eugen Anderer: Wir denken über Veranstaltungskonzepte nach, bei denen wir die Anzahl der Teilnehmer klein halten, und trotzdem viele erreichen können, indem wir Aufzeichnungen ins Netz stellen. So werden wir beispielsweise in der kommenden Woche mit einem ersten “Treppenkonzert” vor unserem Haus am Schwanhof 68 experimentieren. Marburg & Music, das Streichorchester unter der Leitung von Marie Verweyen, wird in verschiedenen kleinen Besetzungen während der Corona-Zeit erarbeitete Werke unter freiem Himmel aufführen. Termin ist Samstag, der 27. Juni um 11.00 Uhr. Wer Interesse hat, muss sich per Mail unter info@musikschule-marburg.de bei uns anmelden. Wir dürfen nur wenige Stühle stellen.
Und: Wir freuen uns natürlich auf ganz viele neu angemeldete Schüler nach den Sommerferien! Wir sind da, wir machen weiter, denn wir sind der Meinung, dass Musik machen ein gutes Mittel gegen den Krisenkoller ist.

“Marburg & Music trotz(t) Corona”
Kammermusikalisches Treppenkonzert Sa 27.6. 11.00, vor der Musikschule Marburg

Interview: Michael Arlt

Bild mit freundlicher Genehmigung von Michael Arlt