Freitag, 26. April 2024
Express Online: Thema der Woche | 7. Juli 2011

"Gelebte Demokratie"

Alexandra Kurth
Forschungsgebiete der Politologin, die am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität arbeitet, sind Rechtsextremismus, Militärpolitik, Gender Studies und politische Bildung. Kurth ist Vorsitzende des Netzwerks für politische Bildung, Kultur und Kommunikation und Mitglied im Bündnis "Gießen bleibt bunt".
Die Gießener Wissenschaftlerin ist außerdem Herausgeberin des in einem Uniseminar erarbeiteten Buchs "Die NPD - Fakten, Hintergründe, Kritik", das Mitte kommender Woche als vierter Band in der Schriftenreihe des Netzwerks für politische Bildung, Kultur und Kommunikation erscheint. Infos: www.nbkk.de
Politikwissenschaftlerin Alexandra Kurth über den Kampf gegen Rechtsextremismus

Mit einem internationalen Fest mit großem Kultur- und Infoprogramm gegen Rechtsextremismus wollen Gießener Bürger gegen einen NPD-Aufmarsch in ihrer Stadt am 16. Juli protestieren. Im Express-Interview erläutert Politikwissenschaftlerin Alexandra Kurth, warum rechtsextreme Demonstrationen schwer zu verbieten sind

Express: Warum kann die Stadt die NPD-Demonstration nicht einfach verbieten?
Alexandra Kurth: Diese Frage wurde nicht nur im Stadtparlament, sondern auch innerhalb des Bündnisses "Gießen bleibt bunt" ausführlich diskutiert. Nach unserer Rechtseinschätzung hätte solch ein Verbot zum gegenwärtigen Zeitpunkt juristisch keinerlei Bestand, wenn die NPD dagegen klagen würde. Das Recht auf Versammlungsfreiheit kann nur eingeschränkt werden, wenn eine besondere Gefahrenlage für die öffentliche Ordnung nachgewiesen werden kann.

Express: Marburg und Gladenbach haben bei rechten Aufmärschen in der Vergangenheit anders gehandelt: Als politisches Signal, dass die Rechtsradikalen dort nicht willkommen sind, haben sie versucht, die Demonstrationen zu verbieten, obwohl sie wussten, dass die Verbote wahrscheinlich vom Verwaltungsgericht gekippt werden.
Alexandra Kurth: Auch bei symbolischen politischen Entscheidungen sollten Schaden und Nutzen abgewogen werden. Mit einem Verbot macht eine Kommune zwar deutlich, dass sie die entsprechende Demonstration ablehnt, gleichzeitig setzt sie sich geradezu zwangsläufig ins "Unrecht", nämlich dann, wenn das Verbot einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhält. In solchen Fällen entsteht die paradoxe Situation, dass die demokratischen Kräfte als diejenigen erscheinen, die das Bürgerrecht der Versammlungsfreiheit nicht akzeptieren, während die Rechtsextremen gerichtlich legitimiert demonstrieren können. Die große mediale Aufmerksamkeit gibt es in der Regel gratis dazu.

Express: Eine gerichtliche Legitimation für eine Organisation, die unser politisches System ablehnt, wie das Motto des Aufmarschs zeigt ...
Alexandra Kurth: Das Motto der NPD-Demonstration ist sicherlich verfassungsfeindlich. "Das System ist am Ende, wir sind die Wende", zielt klar auf eine Überwindung unseres politischen Systems, also der Demokratie. Gleichzeitig hat im Rahmen unserer Demokratie jeder zunächst einmal das Recht auch mit verfassungsfeindlichen Parolen auf die Straße zu gehen, zumindest solange er dabei nicht gegen das Strafgesetzbuch oder das Versammlungsrecht verstößt.

Express: Ist das internationale Fest mit Infos, Musik und Kultur, dass das Bündnis "Gießen bleibt bunt" am 16. Juli plant, der richtige Weg, um dem NPD-Umzug zu begegnen?
Alexandra Kurth: Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig und richtig ist, einen breiten zivilgesellschaftlichen Protest zu organisieren, um deutlich zu machen, dass eine überwältigende Mehrheit der Gießener Bevölkerung die Parolen der NPD überhaupt nicht teilt. Außerdem bin ich dafür, das 2003 aus formalen Gründen gescheiterte Verbotsverfahren gegen die NPD auf Bundesebene wieder aufzurollen.

Express: Im Vorfeld der NPD-Demonstration gab es eine kirchliche Infoveranstaltung zu Rechtsextremismus, ein Bürgertreffen vom DGB, am Demo-Tag ist das internationale Fest geplant. Hat sich damit der zivilgesellschaftliche Protest erledigt oder müsste nicht in Zukunft noch mehr passieren?
Alexandra Kurth: Es wäre schlecht, wenn das Engagement nur auf diesen einen Tag konzentriert und dann beendet wäre. Nach meiner Beobachtung hat aber dieser ärgerliche und in gewisser Weise auch traurige Anlass bei vielen Organisationen in der Stadt dazu geführt, sich mit dem Problem des Rechtsextremismus intensiver auseinander zu setzen. Gleichzeitig wird intensiv darüber diskutiert, was Demokratie bedeutet, welche Rechte es zu verteidigen gilt, ob und wie die Demokratie geschützt werden muss und vieles mehr. In vielen Gesprächen wird deutlich, dass dieser Diskussionsprozess in den Parteien, in den Kirchen und in den vielen anderen beteiligten Organisationen mit dem 16. Juli nicht abgeschlossen ist. Und wenn Menschen über Demokratie sprechen, streiten, reflektieren, ist das das Beste, was einer Demokratie passieren kann, es ist nämlich gelebte Demokratie.

Interview: Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 7. Juli 2011

"Zeichen setzen"

"Gießen bleibt bunt": Mit einem internationalen Fest mit großem Kultur- und Infoprogramm gegen Rechtsextremismus wollen Gießener Bürger gegen den NPD-Aufmarsch am 16. Juli protestieren

Die Zahlen können sich sehen lassen, davon ist Pfarrer Klaus Weißgerber überzeugt: "Allein 200 Organisationen machen bei unserem Aktionstag mit", berichtet er, das Spektrum reiche von Vereinen über Parteien, dem DGB, den Kirchen und nicht zuletzt zahlreichen Firmen. Auch rund 100 Privatpersonen hätten sich für den 16. Juli angemeldet. "Es gibt ein großes Bühnenprogramm sowie über 50 Aktionen abseits der Bühnen in der Stadt. Beispielsweise machen alle Marktbeschicker auf dem Wochenmarkt mit Protestaktionen mit. Das ist eine tolle Sache, dass die sich so engagieren", sich Weißgerber.

Er ist einer der Organisatoren des Aktionstags, den das Bündnis "Gießen bleibt bunt" gegen den NPD-Aufmarsch am 16. Juli geplant hat. Bei dem evangelischen Pfarrer im kleinen Kirchenladen neben dem Stadtkirchenturm laufen die Fäden für das große internationale Fest zusammen, welches das Bündnis an dem Tag feiern will, an dem die rechtsextreme Partei ihre Demonstration in Gießen angemeldet hat.

Es ist wichtig, dass möglichst viele Menschen in die Stadt kommen, mit uns feiern und ein Zeichen setzten, dass hier in Gießen kein Platz für Intoleranz, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit ist", unterstreicht Weißgerber. Allein der große Zuspruch für das von Gießens Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz, Landrätin Anita Schneider und Probst Matthias Schmidt unterstützte Bündnis "Gießen bleibt bunt" sei schon ein großer Erfolg: "Ich glaube nicht, dass die NPD damit gerechnet hat, dass wir ein so großes Programm mit Informationen, Musik und mehr gegen Rechtsradikalismus auf die Beine stellen."

So gibt es auf dem Kirchenplatz und vor der Johanneskirche Programm auf zwei Bühnen, in der Fußgängerzone dazwischen werden interkulturelle Initiativen, Parteien oder auch Vereine mit Infoständen vertreten sein. "Sehr stark vertreten werden die Sportvereine sein, die ja ein sehr große Integrationsleistung vollbringen", berichtet Weißgerber. Natürlich seien auch die Kirchengemeinden dabei, die Diakonie, Amnesty International, die Caritas, Schulen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund veranstaltet rund ums DGB-Haus ein Straßenfest. Im Kulturprogramm auf den Bühnen treten Opernsängerin Bonita Hyman, die Gießener Soul-Shootingstars "SuperPhoniX", ein Zauberer, ein Harfinist, ein Posaunenchor, internationale Tanzgruppen und auch DJ Sean Hall auf. In der Johanneskirche werden ab acht Uhr morgens jeweils zur vollen Stunde christliche Andachten abgehalten. Außerdem sprechen auf beiden Bühnen unter anderem Gießens OB Grabe-Bolz, Regierungspräsident Lars Witteck, Kamyar Mansoori vom Landesschülerbeirat und Hessens SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel.

Die Bundesliga-Basketballer von den Gießen 46ers sind mit einem mobilen Basketballfeld vertreten, es gibt ein Soccerfeld und eine Kletterwand. Bei der Evangelischen Studierendengemeinde Gießen können Passanten eine "Mauer der Diskriminierung" einreißen.

Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur plant eine Lesebühne am Gedenkstein für die 1938 zerstörte Synagoge vor der Kongresshalle. Und an allen "Stolpersteinen" in der Innenstadt, die an die Opfer des Nazi-Terrors erinnern, sollen Mahnwachen stehen. "Dafür suchen wir noch Helfer, die für zwei oder drei Stunden bei den Mahnwachen mitmachen."

Georg Kronenberg

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