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Express Online: Thema der Woche | 18. August 2011

"Ich hatte es leicht im Leben"

Politikprofessor Thomas Noetzel kann nur Kopf und Hände bewegen

Für die 300 Studierenden im Hörsaal der Marburger Philipps-Universität ist Thomas Noetzel ein fast normaler Professor: Kenntnisreich und amüsant spricht er über das Problem der individuellen Freiheit bei Jean-Jacques Rousseau. Doch der Politikwissenschaftler hat eine schwere Behinderung. Er kann nur seinen Kopf und seine Hände bewegen. Fast rund um die Uhr helfen ihm Mobilitätsassistenten wie Iuza Murghulia, seinen Alltag zu bewältigen.

Der 29-jährige BWL-Student aus Georgien sitzt in der Vorlesung unauffällig neben ihm. Er angelt die Unterlagen aus der Tasche des Professors, stellt das Mikrophon ein, rückt Noetzels Arm zurecht und bedient den Computer. Bei den Veranstaltungen ist der Student besonders gern dabei: "Er macht seriöse Themen so lustig", sagt der 29-Jährige.

Noetzel leidet seit seiner Geburt unter Muskeldystrophie. Das bedeutet, dass ihm ein Enzym fehlt, so dass sich seine Muskeln kaum zusammenziehen können. Richtig laufen hat er nie gelernt, konnte sich in der frühen Kindheit aber noch mit Krücken fortbewegen. Ein trauriges oder verzweifeltes Kind sei er aber nicht gewesen, versichert Noetzel. Er sei nur mehr auf die Familie angewiesen gewesen: "Den Freiraum in der Peer-Group hatte ich nicht."

Für seine Eltern - eine Krankenschwester und ein kaufmännischer Angestellter - war es jedoch selbstverständlich, dass auch das Jüngste ihrer vier Kinder auf eine normale Schule ging. In den 60er Jahren, als die schulische Integration von Behinderten noch weitgehend unbekannt war, besuchte Thomas NoetzelVolksschule, Realschule und schließlich die gymnasiale Oberstufe. Dort war er jeweils der erste Behinderte. Doch die Eltern förderten ihn sehr und er konnte seinen Rollstuhl damals noch selbst antreiben. Er wurde der erste in seiner Familie, der studierte.

Nach Marburg verschlug es ihn, weil die Universitätsstadt damals das bundesweit einzige Studierendenwohnheim hatte, das auch für Rollifahrer zugänglich war. Außerhalb des Elternhauses zu leben, tat ihm gut. Er lernte, sich besser durchzusetzen und beharrlich an Themen zu bleiben. Er engagierte sich in der Juso-Hochschulgruppe und studierte schnell. "Ich habe Interesse am Verstehen", erklärt Noetzel. Wäre er nicht Politikwissenschaftler geworden, hätte ihn der Beruf des Psychiaters gereizt. "Wenn man sich mit Politikern beschäftigt, muss man Verrückte verstehen", sagt er.

Der Nordirlandkonflikt sei so eine verrückte, eigentlich nicht zu begreifende Angelegenheit. Noetzel ist Experte für die politischen Systeme Großbritanniens und Irlands. Er promovierte über britische Spione der 30er- und 40er Jahre. Er schrieb über die Geschichte Irlands, die Ära Thatcher und das Regierungssystem Großbritanniens. In England gewesen ist er jedoch nie: "Das ist ein Nachteil der Behinderung", sagt Noetzel: "Mein Radius reicht nur etwa 900 Kilometer." Zugfahren oder Fliegen sei ihm nicht möglich und die Reise über den Kanal zu anstrengend. Schlimm scheint er das nicht zu finden: "Im Kopf war ich oft da", sagt der Professor.

Bei seiner wissenschaftlichen Karriere habe er das Glück gehabt, auf Menschen zu treffen, die ihn förderten. Noetzel stieg relativ schnell zum wissenschaftlichen Mitarbeiter, Assistenten, Hochschuldozenten und schließlich zum Professor in Marburg auf. Seit 2002 hat er die ordentliche Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte inne. "Zufall" nennt er die wissenschaftliche Karriere: "Ich sitze gern und denke nach."

Er arbeitet viel und ist ein ganz kluger Mensch", sagen die Kollegen. Zwölf Bücher und zahlreiche Aufsätze hat er in den vergangenen Jahren geschrieben. Dabei schreckt er auch vor Themen wie "Zombies" und "Befreite Sexualität" nicht zurück. "Bildung bedeutet, mit Krisen souverän umgehen zu können", steht heute auf seiner Homepage. Auf seine Krankheit bezieht er das Motto nicht. Für ihn hat Bildung etwas mit Reifungsprozessen zu tun: "Dazu braucht es Zeit, Muße und Freiraum für aktuell Irrelevantes". Darum ärgert er sich über den "Klausur-Wahnsinn" der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge.

Wer ihn in seinem Büro in der Philosophischen Fakultät besucht, trifft ihn nie allein. Ob Studierenden-Sprechstunde, Arbeitsgespräche mit Professoren oder Kolloquien - einer der drei Mobilitätsassistenten ist immer dabei. "Ich komme immer zu zweit", sagt Noetzel lächelnd. Und er braucht - vor allem morgens - mehr Zeit, um sich auf seinen Arbeitstag vorzubereiten. Lehrveranstaltungen legt er sich daher ungern vor 14 Uhr.

Wegen seiner Behinderung hat er zwar eine etwas niedrigere Lehrverpflichtung, drückt sich aber weder vor Fachbereichsrats- noch vor Direktoriumssitzungen. Zwei Jahre lang hat er das Institut für Politikwissenschaften als geschäftsführender Direktor nach außen vertreten. Die damit verbundenen Sitzungen sind ihm allerdings ein Gräuel.

Freilich gibt es für den Rollstuhlfahrer bis heute viele Hürden: "Barrierefreiheit ist immer noch eine Utopie", sagt der 53-Jährige. Wenn seine Kollegen aus der Soziologie eine Sitzung in ihrem Institut in der Ketzerbach anberaumen, muss sie ohne ihn stattfinden. Die engen Treppen sind für ihn unüberwindlich. Wenig Verständnis hat er auch dafür, dass die Behindertenparkplätze vor der Philosophischen Fakultät während des vergangenen Winters nicht geräumt wurden. Als Rollifahrer blieb er im Schnee schlicht stecken. Doch die zuständigen Abteilungen schoben sich die Verantwortung gegenseitig zu. Das Problem wurde erst durch die Schneeschmelze gelöst.

Immer wieder begegnen ihm auch "ignorante Menschen". Er trifft sie oft auf Wissenschaftlerkongressen. Sie wagten aus Verunsicherung mitunter kaum, ihn anzusprechen: "Behinderung konfrontiert Menschen mit der eigenen Verletzbarkeit", erklärt Noetzel: "Das macht Angst."

Er selbst möchte seiner Behinderung nicht mehr Bedeutung als nötig beimessen.

Man kann die Krankheit nicht überwinden. Man muss mit ihr leben", sagt der 53-Jährige. Das gelte oft auch für gesellschaftliche Probleme, ergänzt der Experte. Wer sie ein für allemal lösen wolle, richte oft besonders viel Unheil an.

Auch da plädiert er dafür, mit Unvollkommenheit zu leben.

Grund zur Verzweiflung sieht er nicht. Seit 14 Jahren ist er mit einer Ärztin verheiratet. "Ich hatte es leicht im Leben", sagt Noetzel: "Ich hatte Liebe, Zufall und Glück. So viel Glück, dass ich schon deshalb nie im Lotto gewinnen werde." Trotzdem spielt er manchmal.

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 18. August 2011

"Hohe Motivation ist sehr wichtig."

"Fit für Ausbildung"
... heißt der etwas andere Aktionstag zur Berufswahl. Am 20. August bietet die Arbeitsagentur Gießen in Kooperation mit dem Jobcenter Gießen gute Orientierungsmöglichkeiten für Jugendliche auf der Suche nach dem passenden Ausbildungsberuf. Und der Spaß kommt dabei auch nicht zu kurz!
In den Räumen der Agentur für Arbeit Gießen, Nordanlage 60, stellen Arbeitgeber von 10 – 16 Uhr eine Bandbreite von Berufe vor, laden zum ausprobieren ein und bieten auch offene Ausbildungsstellen an. So können Interessierte zum Beispiel im InfoMobil von HessenMetall spannende Einblicke in die Vielfalt der Metall- und Elektroberufe bekommen, den Info-Bus der Bundeswehr besuchen oder die Funktionen eines Pflegebetts ausprobieren. Bei dem Stand eines Optikers können Brillengläser geschliffen und Ohrmuschelabdrücke für Hörgeräte gespritzt werden.
Ein besonderes Highlight ist die "Bewerbungsstraße". Hier können Jugendliche ihre Bewerbungsunterlagen unter die Lupe nehmen lassen, ein Profi bietet ein Outfit- und Styling-Check und professionelle Bewerbungsfotos können geschossen werden. In einem Knigge-Vortrag kann man das Einmaleins für ein Bewerbungsgespräch lernen.
Die Krönung der Bewerbungsstraße ist das "Azubi-Speed-Dating". Hier können Ausbildungsplatzsuchende mit Arbeitgebern, die einen Ausbildungsplatz zu besetzen haben, Kurzgespräche führen und evtl. einen Ausbildungsplatz mit nach Hause nehmen.
Insgesamt sind rund 30 Firmen und Institutionen aus der Region an dem Aktionstag beteiligt. Berufsberater und Arbeitsvermittler der Agentur für Arbeit Gießen und des Jobcenters Gießen sind anwesend, um Fragen rund um Ausbildung und Bewerbung zu beantworten.
Eine Live-Band und ein Improvisationstheater sorgen im Innenhof der Arbeitsagentur für gute Stimmung.
Für alle interessierten Besucher empfiehlt es sich aktuelle Bewerbungsunterlagen mitzubringen. In Begleitung der Jugendlichen sind auch die Eltern und Großeltern gerne gesehen.
Parkmöglichkeiten werden an diesem Tag kostenlos in der Tiefgarage angeboten. Der Eintritt ist frei. Für kleines Geld gibt's was zum Essen und Kaltgetränke.
Interview mit Herr Eckart Schäfer, Chef der Arbeitsagentur Gießen / "Fit für Ausbildung" – Aktionstag zur Berufswahl am 20. August

Express: Wie findet man seinen Traumberuf?
Schäfer: Zunächst ist es wichtig sich selbst, seine Interessen, Stärken und Schwächen zu kennen. Anschließend kann man diese Eigenschaften mit Berufsbildern abgleichen. Da viele Berufe und dazugehörige Berufsbilder unbekannt sind, empfiehlt es sich Unterstützung vom Experten zu suchen.

Express: Wenn ich noch nicht hundertprozentig weiß, welche Ausbildung ich machen will – wo informiere ich mich und wie finde ich raus, ob der gewählte Beruf auch wirklich etwas für mich ist?
Schäfer: Wer frühzeitig mit der Berufswahl beginnt, hat einige Vorteile. So können bei Arbeitgebern Praktika absolviert und damit der Beruf hautnah erlebt werden. Ich empfehle jedem Jugendlichen, der auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz ist, den Kontakt zur Berufsberatung der Arbeitsagentur. Die Berater bieten Orientierung bei der Berufswahl, informieren über die Situation auf dem Arbeitsmarkt und schlagen auch offene Ausbildungsstellen vor.

Express: Welche Ausbildungsberufe sind zurzeit besonders beliebt oder chancenträchtig?
Schäfer: Die "Top 10" der Ausbildungsberufe haben sich in den letzten Jahren kaum verändert. Hier sind der Kaufmann im Einzelhandel, die Verkäuferin und der Bankkaufmann sowie die Büro- und Industriekauffrau, Kaufmann im Groß- und Außenhandel und die Medizinische Fachangestellte zu nennen. Chancenträchtig sind häufig weniger bekannte Ausbildungsberufe, da zukünftige Fachkräfte in vielen verschiedenen Brachen gesucht werden.

Express: Wie sieht eine Checkliste für eine gute Bewerbung aus? Welche Punkte darf man dabei auf keinen Fall vergessen?
Schäfer: Die Anforderungen an eine gute Bewerbung sind je nach Berufszweig unterschiedlich. Manch ein Arbeitgeber wünscht die klassische Bewerbung mit Anschreiben, Lebenslauf und Passbild auf Papier, andere per E-Mail. Die Berufsberatung bietet auch dazu passende Unterstützung.

Express: Wie bereitet man sich gut auf ein Vorstellungsgespräch vor?
Schäfer: Zunächst sollte man sich über den potenziellen zukünftigen Arbeitgeber informieren. Dazu bietet zum Beispiel das Internet häufig gute Recherchemöglichkeiten. Im Gespräch sollte man auf Fragen wie "Was sind Ihre Stärken und Schwächen" oder "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren" vorbereitet sein. Neben dem Einmaleins des höflichen Umgangs ist eine hohe Motivation sehr wichtig.

Express: Was macht man, wenn man trotz guter Vorbereitung keinen Ausbildungsplatz bekommt? Welche Überbrückungsmöglichkeiten, Hilfen etc. gibt es?
Schäfer: Es werden verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten von Seiten der Arbeitsagentur angeboten. Hier sind als Beispiel berufliche Vorbereitungsmaßnahmen oder die Einstiegsqualifizierung, beides eine Art Jahrespraktikum in einem Betrieb, genannt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sich der Jugendliche bei der Arbeitsagentur ausbildungsplatzsuchend meldet.

red

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